Letztlich geht es darum zu verstehen, dass Menschen, die anders sind, nicht weniger wert sind.
Letztlich geht es darum zu verstehen, dass Menschen, die anders sind, nicht weniger wert sind.
„Ich weiß, dass ich kein normales zehnjähriges Kind bin.“ Das sagt Auggie Pullmann über sich selbst. Aber, ganz ehrlich, was ist schon normal? Ein Gespräch mit Susanne Kummer vom Wiener Bioethikinstitut IMABE und Andrea Strachota vom Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien über das Normalsein, die unantastbare Würde des Lebens und darüber, dass „anders“ nicht „weniger wert“ bedeutet.
Normal zu sein bzw. als normal wahrgenommen zu werden – das ist es, was wir Menschen uns für uns wünschen.
Normal zu sein heiße dabei „so zu sein – im Aussehen wie im Verhalten – wie die meisten anderen“, sagt Andrea Strachota, Assistenzprofessorin am Institut für Bildungswissenschaft, Arbeitsbereich Heilpädagogik und Inklusive Pädagogik der Universität Wien: „Was in einer modernen Gesellschaft als normal gilt, wird dabei nicht durch zum Beispiel Gesetze vorgegeben“, sagt Andrea Strachota: „Sondern – im Vergleich mit anderen – kontinuierlich von der Mehrheit hergestellt. Werden Normalitätsabweichungen – ein Anders-Sein – wahrgenommen, werden sie bewertet.“
Was im ersten Moment ein wenig theoretisch wirkt, konkretisiert sich im aktuellen Beispiel: „Wenn – wie jüngst - auf der Streif Männer auf zwei Skiern mit 140 km/h den Berg runterrasen, dann ist das nicht normal, auch ein absolutes Gehör ist nicht normal, wird in der Regel aber positiv bewertet.
Eine Behinderung aber ist eine sicht- bzw. wahrnehmbare Abweichung, die im Allgemeinen negativ bewertet und auf die negativ reagiert wird.“
Unsere Reaktion auf die Abweichung vom sogenannten Normalen ist dabei erlernt. Kleinkinder gingen auf ihnen Fremdes, Unbekanntes, noch nie Gesehenes eigentlich relativ unbefangen zu. Da sei sehr wohl ein Wahrnehmen, Staunen, Erschrecken, eine Neugier. Doch sei mit diesem Verhalten nicht zwangsläufig eine negative Bewertung verbunden.
„Die negative Bewertung erfahren Kinder sehr oft über die Reaktionen ihrer Eltern bzw. Bezugspersonen“, so Andrea Strachota. Denn sehr schnell bekämen die Kinder damit mit, dass „es sich nicht gehört“, Fragen zu stellen, dass es besser ist, wegzuschauen und „solche“ Menschen zu meiden.
Ganz anders sei es etwa, wenn Kinder vom ersten Tag ihres Lebens mit Normabweichungen aufwachsen – sei es mit einem behinderten Geschwisterchen oder mit einem gleichgeschlechtlichen Elternteil etc. – „Dann erfahren sie dieses Anderssein eben oftmals erst durch die sozialen Reaktionen anderer“, sagt Andrea Strachota.
„Ein Grundproblem unserer Gesellschaft ist ja, dass das Normalsein von gewissen Eigenschaften abhängig gemacht wird, von bestimmten Leistungen, die unserer Machbarkeitsgesellschaft entsprechen“, sagt dazu Susanne Kummer. Sie ist Geschäftsführerin des Institutes für Medizinische Anthropologie und Bioethik (IMABE), das seit seiner Gründung 1988 den Dialog von Medizin und Ethik in Forschung und Praxis auf Grundlage des christlich-humanistischen Menschenbildes fördert.
Dass jeder Mensch, unabhängig von seinem Können, Verhalten oder Aussehen die gleiche unantastbare Würde besitzt, sei heute nicht mehr selbstverständlich. Das trifft Menschen mit Behinderung, aber auch gebrechliche alte oder auch schwer kranke Menschen.
Hat deren Leben Sinn? „Diese Frage ist schon falsch gestellt. Es geht nicht darum, dem Leben einen Sinn abzutrotzen, das ist der falsche Zugang“, sagt Susanne Kummer: „Vielmehr müssen wir uns dem Leben öffnen, es berühren – dem Leben in all seinen Ausprägungen. Dann erschließt sich der Sinn von alleine – jenseits eines Nutzen-Denkens.“
In schwierigen Situationen komme man da schon mal an seine Grenzen. Doch: „In der Begegnung mit dem Bedürftigen verdichtet sich, was jeder von braucht, wonach sich jeder sehnt: bedingungslos angenommen zu werden, einfach so, wie man ist!“ Dass uns dieses Akzeptieren des Normbrechenden oft so schwerfalle, habe auch mit der Angst vor Kontrollverlust zu tun. Letztlich ginge es um das Aushalten-Können eines Krisenmoments. „Dass eine Krise auch eine Chance sein kann, dass man an ihr und mit ihr wachsen kann, das ist in unseren Köpfen kaum verankert.“
„Letztlich geht es darum zu verstehen, dass Menschen, die anders sind, deshalb nicht weniger wert sind“, sagt Andrea Strachota: „Und um das zu erreichen, dürfen Menschen mit Behinderung nicht ausgegrenzt werden. „Wir müssen einen neuen Zugang zum Leben finden“, sagt Susanne Kummer: „Das Leben ist keine Maschine: alles läuft, wie ich es plane – das ist einfach Utopie! In Wahrheit ist es anders: Weil wir alle vulnerabel sind, tragen wir füreinander Verantwortung.“
Wie lässt sich aber dieser andere Zugang zum Leben finden?
„Ich denke, dass wir als Gesellschaft Erfahrungen zulassen müssen, die sich jenseits des Perfekten abspielen. Und ob wir das können oder nicht, hat letztlich wohl auch mit Transzendenz zu tun. Wenn ich davon überzeugt bin, dass nicht alles in meiner Hand liegt, dass ich gehalten und getragen werde, dann sehen wir wohl auch die Herausforderungen des Lebens anders.“
Filmkritik:
„Wie wir lernen, gut zueinander zu sein“
die Zeitung der Erzdiözese Wien
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