Ob unser Leben gelingt, hängt für Arnold Mettnitzer von unserem Umfeld, den konkreten Lebensumständen und Beziehungen ab
Ob unser Leben gelingt, hängt für Arnold Mettnitzer von unserem Umfeld, den konkreten Lebensumständen und Beziehungen ab
Kurt G. hat unter der Fahne der Nazis hunderte Menschen getötet. Auch die Eltern von Ali Ungàr. Der ist heute 80 und wild entschlossen, dem Mörder entgegenzutreten. Er reist nach Wien, doch trifft er nur den Sohn an. So beginnt der Film „Dolmetscher“, der gerade in unseren Kinos zu sehen ist.
Wir fragen den Theologen und Psychotherapeuten Arnold Mettnitzer: Kann man
alles verzeihen? Und muss man das überhaupt?
Eine moralische Verpflichtung zum Verzeihen sieht Arnold Mettnitzer nicht. Er interessiert sich mehr für das „Strickmuster“ der Menschen.
„Mit jedem Menschen haben wir ein Weltereignis vor uns und treffen auf eine Einmaligkeit, die uns in erster Linie staunen lässt – im Guten, wie im weniger Guten.“ Mit dieser Grundhaltung begegnet der Theologe und Psychotherapeut den Klienten in seiner Praxis in Wien-Josefstadt, er wertet nicht und richtet nicht.
Vor vielen Jahren erzählte ihm ein Bekannter hinter vorgehaltener Hand, dass er Aufseher im KZ Buchenwald gewesen war. „Er sagte: ,Wir haben alle nicht gewusst, was da vor sich geht.‘
Ich war vor der Wahl, ihm zu sagen: Das glaub‘ ich dir nicht! – oder über die Erfindungsgabe und den Schutzmechanismus der menschlichen Seele zu staunen, die auf diese Weise dafür gesorgt hat, dass er weiterleben konnte.“ Wenn jemand eine solche Vergangenheit hat, erklärt Arnold Mettnitzer, kann es passieren, dass das Belastende ausgefiltert und komplett verdrängt wird.
Die unausgesprochenen und verdrängten Dingen belasten aber noch die kommenden Generationen. „Wir tragen in unserem Lebensrucksack auch die unbewältigte Geschichte unserer Vorfahren mit. Das erleben wir in Aufstellungsarbeiten, da gibt es ganz verblüffende Geschichten.“
Ob unser Leben gelingt, hängt für Arnold Mettnitzer aber nicht so sehr von diesem Rucksack ab, sondern viel mehr von unserem Umfeld, den konkreten Lebensumständen und Beziehungen, „den Menschen, die uns Nachsicht schenken und Liebe anbieten, gerade dort, wo wir sie nicht verdienen“.
Es gibt Menschen, die haben schier Unglaubliches verziehen: ehemalige KZ-Opfer ihren Aufsehern, Missbrauchte ihren Vergewaltigern. Papst Johannes Paul II. verzieh dem Mann, der ihn 1981 niederschoss und töten wollte. „Das war ein wunderbarer Ausdruck der Menschlichkeit, man kann das nicht hoch genug einschätzen. Soetwas muss ein unglaublicher Kraftakt sein. Das hat natürlich eine ansteckende Wirkung.“
Das Verzeihen kann man lernen, davon ist Arnold Mettnitzer überzeugt: „Nicht im Sinne eines Grundkurses, sondern indem ich mich in das Kraftfeld von Menschen begebe, die das tun. Im Umfeld solcher Menschen lernt man zu verzeihen.“ Darum, folgert er, sollten wir darauf achten, mit wem wir unsere Zeit verbringen.
Vergeltung bringt keinen Frieden, sie lässt uns nie an ein Ende kommen, setzt sich immer weiter fort und zerstört unser Leben und das derjenigen in unserer Umgebung. „Im Sinne der Bergpredigt kann man hier ein Ende setzen: dadurch, dass du notfalls die andere Wange hinhältst – nicht aus Jux und Tollerei, sondern um diese Spirale der Gewalt zu brechen.“
Wo eine Aussöhnung nicht mehr möglich ist, weil jemand verstorben ist, empfiehlt Arnold Mettnitzer, Zwiesprache am Grab zu halten. „Das birgt sehr viele und in der Regel positive Überraschungen.
Dieser Mensch hat seine Geschichte, die an diesem Grab, diesem GPS-Punkt menschlicher Begegnung, zu einem Abschluss gekommen ist. Diese Geschichte dort zu meditieren, versöhnt vielleicht, hilft aber auf jeden Fall.“
Das erste Heilmittel für seelische Wunden ist das Wort – gleich, ob es um Dinge geht, die mir angetan wurden, oder um Dinge, die ich anderen angetan habe.
„Was mich kränkt, macht mich krank. Und ich bin gut beraten, nach Worten zu suchen, um zu sagen, was mir fehlt, was mich quält, was mir auf der Seele liegt und darauf wartet, benannt und dadurch gebannt zu werden.
Wenn ich für die Leiden und Schmerzen tief in der Seele Worte finde, dann ist die Morgenröte einer Veränderung bereits in Sicht.“ Welche Befreiung es ist, sich etwas von der Seele zu reden, erlebt Arnold Mettnitzer sehr oft in der therapeutischen Arbeit.
„Die Erfahrung, Mensch sein zu dürfen, Schuld eingestehen zu können, heißt nichts anderes, als begrenzt zu sein und sich dadurch erlöst zu fühlen, dass ich so sein darf. Oder wie es in den Psalmen (Jes. 38,17; Anm.) heißt: Gott schaut mich an und damit zwischen mir und ihm nichts ist, wirft er meine Schuld oder das, was mich belastet, hinter seinen Rücken.“
Um das, was zwischen mir und Gott steht, auszuräumen, gibt es in der katholischen Kirche das Sakrament der Versöhnung. „Die Beichte als Grundbedürfnis hat ewige Aktualität“, sagt Arnold Mettnitzer.
Die Krise der Beichte, von der immer wieder gesprochen wird, sei sehr oft eine „Krise der Kompetenz der Beichtväter.“ Wer sich um den innersten Kern menschlicher Bedürftigkeit kümmern möchte, brauche zumindest das kleine Einmaleins psychologischer Erkenntnisse und sollte sich mit der eigenen Geschichte und den eigenen Grenzen auseinandergesetzt haben.
„Wenn du als Seelsorger, dem ein Mensch sich öffnet, diese Öffnung dadurch förderst, dass du ihn so, wie er ist, mit all seinen Lastern, ermutigst, er selbst zu sein, dann passiert Begegnung in einer befreienden Art und Weise, die sich gewaschen hat. Und nichts anderes brauchen wir und nichts anderes wäre der ursprüngliche Sinn eines Beichtgespräches. Die Kunst, sein Leben zur Sprache zu bringen und sich selber ein bisschen besser in den Abgründen der eigenen Seele kennenzulernen.“
zur Person
Arnold Mettnitzer
ist Theologe, Psychotherapeut, gefragter Referent und Autor zahlreicher Bücher.
Filmtipp:
Der Dolmetscher Ali Ungár (Jirí Menzel) reist von Bratislawa nach Wien, um späte Rache am mutmaßlichen Mörder seiner Eltern zu nehmen. Doch statt des ehemaligen SS-Offiziers findet er nur dessen Sohn Georg Graubner (Peter Simonischek) vor. Der engagiert ihn wenig später als Begleiter für eine Reise zu den einstigen Stationen seines Vaters in der Slowakei, um die Familiengeschichte endlich aufzuarbeiten.
Der mehrfach ausgezeichnete slowakische Regisseur Martin Šulík rührt im Film „Dolmetscher“ an die verdrängte Vergangenheit seines Heimatlandes und zeigt, wie stark die NS-Zeit auch die späteren Generationen prägte und, dass es lebenswichtig sein kann, sich zu erinnern. Aufwühlend und absolut sehenswert – nicht nur im Gedenkjahr.
Trailer des Films „Dolmetscher“
Buchtipp:
Unser Lebensglück hängt entscheidend davon ab, ob wir vergeben können, sagt Melanie Wolfers.
"Die Kraft des Vergebens"
von Melanie Wolfers
Verlag Herder,
ISBN: 3-451-32631-0
Interview mit Melanie Wolfers über ihr Buch
Melanie Wolfers zeigt Schritte, wie wir Kränkungen überwinden und zur Versöhnung gelangen können. Zur Serie
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