Gespräch von Doris Wagner mit Kardinal Christoph Schönborn am 2. Februar 2019.
Gespräch von Doris Wagner mit Kardinal Christoph Schönborn am 2. Februar 2019.
Kardinal Schönborn über Hintergrund und Wirkung seines medial vielbeachteten Gesprächs mit einem Missbrauchsopfer im Bayerischen Rundfunk.
Viel Aufmerksamkeit hat ein im Bayerischen Rundfunk gesendetes Gespräch von Ihnen mit Doris Wagner erregt - einer Frau, die als Schwester in einer geistlichen Gemeinschaft über Missbrauch berichtete und keinen Glauben fand. Wie kam es dazu?
Ich hatte schon vor mehreren Jahren von Frau Wagner gehört. Ich kenne die Gemeinschaft, in der sie war, seit Jahrzehnten. Ich habe mit großer Anteilnahme das Buch gelesen, das sie über ihre Geschichte geschrieben hat. Ich habe von mir aus die Initiative ergriffen, sie kontaktiert und sie gefragt, ob sie es für sinnvoll hielte, dass wir einmal auch öffentlich miteinander sprechen. Sie hat meinen Vorschlag aufgegriffen, und wir haben gemeinsam überlegt, wie das Setting für ein solches Gespräch aussehen könnte.
Und wie kam das ins Fernsehen?
Frau Wagner hatte Kontakt zu Stefan Meining vom Bayerischen Rundfunk. Er ist auf den Vorschlag eingegangen, ein nicht moderiertes Gespräch zwischen uns beiden zum Mittelpunkt einer Sendung zu machen. Ich war sehr beeindruckt von dem sensiblen Umgang aller Beteiligten mit dem Versuch dieses Gesprächs, das zugleich sehr persönlich und sehr grundsätzlich sein sollte.
Die Fernsehsendung dauert eine Dreiviertelstunde. Enthält sie das ganze Gespräch zwischen Ihnen und Frau Wagner?
Bei weitem nicht. Wir haben in drei Einheiten insgesamt vier Stunden gesprochen. Es wurde ein für mich, und ich glaube für uns beide, intensives, respektvolles und wirklich in die Tiefe gehendes Gespräch. Es war vereinbart, dass der Redakteur und sein Team das lange Gespräch auf eine 45-Minuten-Sendung zusammenschneiden. Herr Meining hat meinem Empfinden nach tatsächlich die wichtigsten Passagen gebracht. Von meiner Seite kann ich mich ganz in der Sendung wiederfinden.
In einigen Medien kam dann doch sehr stark eine Episode: dass auch Sie in Ihrer Jugend eine unangenehme Erfahrung mit einem Priester gemacht haben.
Diese Berichterstattung hat mich nicht wenig geärgert. Manche Schlagzeilen haben so getan, als hätte ich mich als Missbrauchsopfer geoutet. In diesem Teil des Gespräches ging es uns um einen Blick in die Vergangenheit. In diesem Zusammenhang habe ich eine Episode als Illustration für den in den 50er Jahren noch viel verkrampfteren Umgang mit der Sexualität erzählt: Ein von mir im Übrigen sehr geschätzter Priester hat mir verbal einen Kuss angetragen. Ich erinnerte in dem Gespräch an die exzessive Konzentration der kirchlichen Morallehre und der Seelsorge auf Sexualität - unter Vernachlässigung etwa der sozialen Gebote des Evangeliums. Die Fixierung auf sexuelle Themen betrachte ich als missbrauchsfördernd. Ich selber kann mich nicht als Opfer bezeichnen.
Das Opfer bin nicht ich, sondern sind die vielen, denen wirklich Leid angetan wurde. Ihnen muss man zuhören, sie ernst nehmen. Was mir damals passiert ist, war sicher eine Grenzverletzung, und so etwas kann der Ausgangspunkt von Missbrauch sein. Aber mich deswegen ein Opfer zu nennen, ist Sensationshascherei. Das ist den wirklichen Opfern gegenüber ungerecht.
Wäre es – nicht nur wegen der medialen Zuspitzung – nicht angebrachter gewesen, das Gespräch abseits aller medialen Aufmerksamkeit zu führen?
Ich denke, es geht hier um eine Kulturveränderung. Papst Franziskus würde sagen: eine conversion cultural, eine kulturelle Bekehrung. Die Menschen müssen sehen: Wenn Personen wie Frau Wagner den Mut finden, über Missbrauch zu sprechen, der ihnen widerfahren ist, werden sie gehört und es wird ihnen geglaubt. Und sie müssen erfahren, dass daraufhin auch etwas geschieht, dass es Konsequenzen gibt.
Aber der Kulturwandel des Hinhörens und der Konsequenz ist noch nicht abgeschlossen, da braucht es immer wieder einen neuen Anstoß. Vielleicht ist unser Gespräch ein kleiner Anstoß in diese Richtung. Ich bin Frau Wagner zutiefst dankbar, dass wir dieses Gespräch führen konnten. Es war für mich eine kostbare Erfahrung.