Raum, der Freiheit schenkt – Freiheit, einen Moment auszusteigen aus den Zwängen und Pflichten des Alltags, zur Begegnung mit sich selbst, mit anderen, mit Gott. (A. Rosar)
Raum, der Freiheit schenkt – Freiheit, einen Moment auszusteigen aus den Zwängen und Pflichten des Alltags, zur Begegnung mit sich selbst, mit anderen, mit Gott. (A. Rosar)
Es macht nachdenklich, wenn Kirchen in Zeiten von Angst und Verunsicherung aus medizinischen Gründen gesperrt werden. Denn so eine Kirche kann auch für Nichtglaubende ein wichtiger Ort sein. Sie fungiert sogar als Zeuge für die Gleichheit aller Menschen. Und ist vielleicht sogar Bundesgenosse im Kampf gegen die Kriminalität.
Das Wort von Andrea Riccardi hat nicht nur in Italien Gewicht. Der Geschichtsprofessor, der als Maturant die Gemeinschaft Sant’Egidio gegründet hat, hat in einem Zeitungskommentar die Maßnahmen der italienischen Behörden kritisert, die zwecks Eindämmung der Coronavirus-Epidemie Kirchen schließen und Messfeiern absagen ließen. Eine „gewisse Bitterkeit“ habe das in ihm hervorgerufen, schreibt Riccardi.
Der Aufstieg des Christentums in den ersten Jahrhunderten sei nämlich – hier zitiert er den US-Soziologen Rodney Stark – auch davon beeinflusst worden, dass Christen bei Epidemien nicht wie die Heiden aus der Stadt und vor den anderen geflüchtet seien. Sie hätten vielmehr einander besucht, unterstützt und ihre Toten begraben. Und ihre Überlebensraten seien höher gewesen als die der anderen.
Riccardi konstatiert, die Schließung von Kirchen gerade in Zeiten von Angst und Unsicherheit heiße, „den Kirchenraum zu banalisieren“. Gotteshäuser seien nämlich nicht nur „risikobehaftete Versammlungsorte“, sondern auch Orte des Geistes, „Hoffnung und Trost gebende Ressourcen in schwierigen Zeiten.“
Soweit Riccardi. Mittlerweile durften die meisten Kirchen in Italien auch schon wieder aufsperren. Aber es ist ein guter Anlass, einmal darauf zu schauen, welche Bedeutung Gotteshäuser haben – einfach dadurch, dass sie da sind.
Der Schweizer Opernregisseur Andreas Rosar hat vor zwei Jahren in einem Aufsatz für feinschwarz.net einen Kirchenbau als „steinernes prophetisches Zeugnis“ bezeichnet – für einen Glauben, „der den oft kurzsichtigen Blick aus den engen Gassenfluchten der Geschäftszeilen in die Weite des Himmels lenkt.
Ein Glaube, der inmitten der Arbeits- und Konsumwelt davon erzählt, dass ein Mensch mehr ist als das, was er tut oder besitzt. Mehr denn je künden sakrale Bauten im vom Kapital geprägten profanen Stadtgefüge von der Gleichheit aller Menschen.“
Die Kirche als Ruheort, als – vielleicht letzter Raum in der Stadt, wo man einfach nur drinsitzen kann, ohne konsumieren oder eine Rolle spielen zu müssen, die Kirche als strukturierendes Element in der Geographie eines Ortes, aber auch im Geschichtsbewusstsein einer Nation („ein Teil von uns allen brennt“, twitterte Frankreichs Präsident Macron, als die Kathedrale Notre Dame in Flammen stand): das sind Leistungen für alle, auch die Nichtglaubenden.
„Religiöse Gebäude funktionieren selbst dann noch als Orte der Ehrfurcht und der Kontemplation, wenn Menschen sie vorrangig als TouristInnen aufsuchen“, hat auch der Linzer Bischof Manfred Scheuer festgestellt. „Die Aura des realen Sakralraums ist ein Fest für die Sinne und ermöglicht auch Kirchenfernen Erfahrungen der Transzendenz.“
Und auf eine interessante Wirkung weisen Studien wie etwa jene der Universität von Louisiana hin (Matthew R. Lee 2006), die feststellt, dass die Kriminalitätsrate im Schnitt umso niedriger ist, je mehr Kirchen es pro Einwohner in einem Ort gibt.
Ob das eine Wirkung ist, die allein vom Kirchenraum ausgeht? Ich habe da einen ganz simplen Zugang: Allein schon die fortgesetzte Anwesenheit Gottes – sei es in der Eucharistie oder mitten unter den zwei oder zweihundert in seinem Namen Anwesenden muss einen Unterschied machen. So groß ist Gott allemal.
Michael Prüller
Pressesprecher der Erzdiözese Wien
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