Angst zu haben ist kein Selbstzweck, sondern sollte Sinn machen. Und der Sinn ist, dass uns die Angst veranlassen sollte, zu handeln, damit Gefahren abgewendet werden.
Angst zu haben ist kein Selbstzweck, sondern sollte Sinn machen. Und der Sinn ist, dass uns die Angst veranlassen sollte, zu handeln, damit Gefahren abgewendet werden.
Der Coronavirus hat unser Alltagsleben grundlegend geändert. Viele Menschen haben jetzt Angst um ihre Gesundheit, um ihre Arbeit und Existenz. Doch unsere größte Angst liegt heutzutage ganz woanders, sagt Joachim Bauer, Neurowissenschaftler, Arzt und Psychotherapeut: „Unsere größte und wichtigste Angst ist heute der drohende oder tatsächlich eingetretene Verlust sozialer Verbundenheit.“
Aber gegen diese Angst kann man etwas tun. Wie im Übrigen auch gegen alle anderen Ängste.
Der Säbelzahntiger – der ist es, der den meisten – auch angeblichen Fachleuten – heute auf die Frage nach möglichen Angstauslösern einfällt. Aber wann ist Ihnen ein solcher zuletzt begegnet?“, sagt Joachim Bauer wohl auch mit einem gewissen Augenzwinkern im Gespräch mit dem SONNTAG. Seit langem beschäftigt sich der Neurowissenschaftler, Arzt und Psychotherapeut mit dem Thema Angst in den verschiedensten Kontexten.
Natürlich seien Gefahren für Leib und Leben Angstauslöser, sagt er, „der wichtigste Angstauslöser für den Menschen heutzutage aber ist der drohende oder der tatsächlich eingetretene Verlust der sozialen Verbundenheit. Was den modernen Menschen in unseren individualistischen westlichen Kulturen umtreibt, ist die Angst, soziale Akzeptanz und Verbundenheit zu verlieren. Das wird in unserer materialistisch kommerzorientierten Welt nur gerne vergessen.“
Grundsätzlich, so Joachim Bauer, sei Angst ein wichtiges Gefahren-Erkennungssystem, „für unser Überleben als soziale Wesen ein ganz wichtiges unersetzliches Gefühl.“ Das gilt für jene extremen Situationen, in denen es um Gefahr für Leib und Leben geht – und auch im Hinblick auf Ängste rund um unser soziales Gefüge. „Wenn ich merke, dass mir der Rückhalt meiner Partnerschaft, meiner Familie oder wichtiger Freunde zu verlieren droht, dann wird sich in meinem Inneren eine ängstliche Unruhe bemerkbar machen“, sagt Joachim Bauer.
Wissenschaftlich bestätigt ist dabei allerdings, dass tatsächlich die Angstbereitschaft – also die Art und Weise, wie ein Mensch auf neue, ihm unbekannte Reize reagiert – bei Menschen sehr unterschiedlich ausgeprägt ist.
„Hier spielen frühere Erfahrungen, vor allem Erfahrungen in den ersten Lebensjahren eine wichtige Rolle“, sagt Joachim Bauer: „Wer erlebt hat, dass man in kritischen Situationen zusammenhielt und unterstützt wurde, wird in einer aktuellen Gefahrenlage mit weniger Angst und mit mehr Zuversicht reagieren. Wer in der Vergangenheit oft alleine gelassen wurde, reagiert auch in Zukunft schneller mit Angst.“
Am schwierigsten haben es demnach Menschen, die durch ein Trauma gehen mussten, z. B. Gewalt erlebt haben. „Hier beobachtet man – oft über viele Jahre hinweg – eine stark erhöhte Angstbereitschaft. Wer eine hohe innere Angstbereitschaft in sich trägt, findet sekundär immer irgendwelche angeblichen Gründe, mit denen die eigene Angst begründet werden kann.“
Und wie sollen wir nun unseren Ängsten begegnen? Wie gehen wir mit ihnen um, damit sie uns nicht belasten und schaden, sondern vielleicht sogar nützen? Zunächst einmal: Das bereits angesprochene Aufkommen eines Angstgefühls als wichtiges Warnzeichen wahrnehmen und nicht leichtfertig übergehen.
Im Hinblick auf Ängste, wie derzeit ganz aktuell die Angst vor einer weiteren Ausbreitung von Corona, bedeutet das, dass „wir uns durchaus Sorgen – vielleicht auch ein wenig Angst machen dürfen“. Wir sollten dann aber ins Handeln kommen, also uns vernünftig verhalten. „Derart aufkommende Angst sollte uns dazu veranlassen, über die Gründe der Bedrohung nachzudenken.
Angst zu haben ist kein Selbstzweck, sondern sollte Sinn machen. Und der Sinn ist, dass uns die Angst veranlassen sollte, zu handeln, damit Gefahren abgewendet werden.“ In Hinblick auf die Angst vor dem Verlust von sozialer Verbundenheit würde das bedeuten, das Gespräch mit denen zu suchen, von denen ich befürchte, dass sie sich vielleicht abwenden. In Hinblick auf die Angst vor einer möglichen Ansteckung durch das Corona-Virus bedeutet es, Vorsorge zu treffen, damit wir und andere eben nicht angesteckt werden können.
Was in jedem Fall aber bleibt, sei, dass wir manche Ängste auch bis zu einem gewissen Grad aushalten müssen. Noch einmal in Hinblick auf Corona gesprochen bedeute das: „Solange die Gefahr nicht vorüber ist, bleibt eine gewisse ängstliche Unruhe, die wir wohl ertragen müssen.“
Was darüber hinaus noch helfen kann: Ein grundlegendes Lebenskonzept – etwa der Glaube. Dieser kann als stärkend und beruhigend erlebt werden. Allerdings nicht zwingend: „Ich glaube, es hängt davon ab, wie einem der Glaube nahegebracht wurde“, sagt dazu Joachim Bauer: „Der Glaube an einen liebenden Gott, der dann, wenn wir in Not sind oder leiden, mit uns mit-leidet, kann helfen, weniger Angst zu haben.“
Wem ein strafender, strenger Gott verkündet wurde, wird durch den Glauben in seiner Angst bestärkt werden. „Jesus von Nazareth aber scheint, wenn wir den überlieferten Erzählungen glauben, kein ängstlicher Mensch gewesen zu sein. Er hat sich um Menschen gekümmert, die von anderen gemieden wurden.
Als es für ihn selbst gefährlich wurde, geriet er weder in Panik noch war er bereit, seine Positionen zu widerrufen. Er hat darauf vertraut, dass sein Weg der richtige ist und dass er den Schutz Gottes auch im Angesicht des Todes nicht verlieren würde.“
Unsere größte Angst ist, die soziale Verbundenheit zu verlieren!“ sagt Joachim Bauer. Und dann hören wir jeden Tag den Satz: „Reduzieren Sie Ihre sozialen Kontakte auf ein Minimum!“
Wie gut, wenn wir dann erfahren dürfen, dass soziale Verbundenheit sich nicht ausschließlich dadurch ausdrückt, dass wir einander treffen. Nehmen wir meine Familie als Beispiel: Wir halten uns zu Hause auf. Und verstehen Sie mich nicht falsch: Wir sind gerne zu Hause. Aber wir sind auch gerne unterwegs. Und vor allem treffen wir gerne unsere Freunde und unsere Familie – spielen, lachen, plaudern.
Doch wir tun das alles derzeit aus Vernunft und Solidarität – auch mit den Freunden und Familien anderer – nicht. Und das Schöne ist: Soziale Verbundenheit spüren wir trotzdem.
Wir (video)telefonieren und whatsappen was das Zeug hält… wir schicken Fotos, Karikaturen, Videos. Wir machen das Beste aus dieser unwirklichen, schwierigen Situation!!!
Und wir freuen uns jetzt schon unbändig auf den Tag, an dem alles wieder normal sein wird.
(Andrea Harringer Der SONNTAG)
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