Religionsphilosophin bei Mariologischem Kongress in Wien: Biblischer Lobgesang der Mutter Jesu bildet Gegensatz zu Absolutsetzung des Einzelnen und zu "Zukunft, die vor allem als Katastrophe erwartet wird".
Auf den tiefen theologischen Inhalt des sogenannten "Magnificat"-Gebets - des Lobgesangs, den die werdende Gottesmutter Maria im Lukasevangelium bei der Begegnung mit ihrer ebenfalls schwangeren Cousine Elisabeth anstimmt - hat die Religionsphilosopin Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz hingewiesen. Der Text enthalte "unerschöpfliche Bezüge" auf Traditionen Israels wie auch anderer Kulturen und eröffne auch heute noch Zugänge zur Mutter Jesu, sagte die emeritierte Dresdener Professorin, die weiterhin an der Hochschule Heiligenkreuz lehrt, am Sonntag in Wien. Anlass gab ein Mariologischer Kongress, den die katholische Bewegung "Legio Mariens" zu ihrem 100-Jahr-Jubiläum in der Aula der Wissenschaften veranstaltete.
Die Aussagen der Heiligen Schrift über Maria seien "großartig, aber zugleich sparsam" und ließen sie immer eine "Unbekannte" bleiben, hielt Gerl-Falkovitz fest; dabei habe es gleichzeitig zu der biblischen Knappheit schon seit dem frühen Christentum einen enormen Reichtum an Symbolen in ihrer Verehrung gegeben. Evangelische Christen, die sich nur an die Bibel halten, seien karg und zurückhaltend in der Marienverehrung, während Orthodoxe und Katholiken eine starke innere Beziehung zur Mutter Jesu entwickelt hätten. Das Magnificat liefere dafür einen Schlüsseltext.
Dieser sei vor allem eine Freudenbotschaft, betonte die Religionsphilosophin. Völlig überraschend sei dies nicht, habe doch Maria zu diesem Zeitpunkt erstmals - durch den Mund Elisabeths - "von außen" eine Bestätigung der Botschaft des Engels erhalten, was "wie eine zweite Verkündigung" gewesen sei. Gerl-Falkovitz: "Welche Frau hat schon Gott geboren? Welche Frau kennt seine kindlichen Regungen, sein Weinen, sein Lachen, lebt dreißig Jahre mit ihm, der für sie sorgt - und welche Frau erfährt die Hochstunden seines Lebens, als die Menge ihm ergriffen zuhört, als er zum König ausgerufen werden, als das geheimnisvolle Reich anbrechen soll und als er zuletzt verblutet." Maria sei Zeugin des "Menschen, der das Weltall geschaffen und die Geschichte umgestürzt hat".
Doch noch viele andere Ebenen ließen sich in dem neutestamentlichen Text entdecken. Heute werde der Einzelne fast absolut gesetzt und losgelöst von tragenden Kräften wie Herkunft, Geschichte und Kontinuität, aber auch von einer Zukunft, die vor allem als Katastrophe erwartet wird, so die Bestandsaufnahme der Religionsphilosophin. "Was sind schon Eltern, was Heimat, was Blutbindung - wenn wir autonome Weltbürger werden sollen? Was ist schon Zukunft, wenn unterschwellig im Alter die autonome Selbsttötung erwartet wird, wenn Kinder als Gefahr für das Klima gelten und Frauen deswegen den Uterus herausoperieren lassen?"
Völlig im Gegensatz dazu streiche das Magnificat das "Einbinden des Einzelnen in ein Gesamtwert" hervor - auch durch Marias Einsicht, "dass sie von Anfang an vorgesehen war und durch die Geschlechterketten vorbereitet wurde", worin sie Gottes Größe erkannt und Anlass für Jubel gefunden habe. Das von ihr Formulierte dürften Christen auf sich übertragen. Die Vorstellung, dass jeder Mensch schon im Anfang der Welt von Gottes Vorsehung gewollt sei, öffne den Sinn und das Dasein auch auf ein Ziel hin. Gott werde nach christlicher Vorstellung dem Menschen darin Einblick geben und ihn dabei sowohl aus der "scheinbaren Verlorenheit und Vergeblichkeit des Tuns" wie auch als seinem schuldigen Versagen lösen.
Weiters sei an Maria auch erstmals eine bedeutende "Umwertung aller Werte" sichtbar geworden, betonte Gerl-Falkovitz. "Seit der Stunde in Nazareth gilt die Schönheit, das Leuchtende des Unscheinbaren und 'Kleinen', des 'Unmündigen'." Der Verweis Mariens auf ihre "Niedrigkeit", die durch die Selbstbezeichnung als "Magd" noch verstärkt worden sei, mute "anstößig" an, bedeute aber kein Schlechtmachen ihrer selbst, sondern stehe für "dort stehen, wo man hingehört". Das "Unten" als der Ort des Menschen sei nicht das Schlechte und Verächtliche, sondern vielmehr Gegenbild des Göttlichen und Herrlichen, das jedoch unerwartet mit der Menschwerdung Jesu zum Ort der Gegenwart und Herrlichkeit Gottes geworden sei - und zwar "für alle Zukunft".
Ein Sozialprogramm aus dem Magnificat abzuleiten hielt Gerl-Falkovitz für unangemessen. Wohl sei der Sozialismus immer schon die "subtile Versuchung des Christentums" gewesen, zitierte sie die Philosophin Simone Weil. Die in dem biblischen Gebet erwähnten Umstürze ("Er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind; / er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. / Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen.") passten jedoch nicht zu jenem opferreichen Elend, welches Revolutionen mit bloßem Austausch von Reichtum und Armut gebracht hätten. Gottes Machtfülle und Gerechtigkeit seien von anderer Natur und weit tiefergehend als die des Menschen.
Über die innerkirchliche Diskussion darüber, welche Rolle Maria im Heilsgeschehen besitzt, sprach in einem weiteren Vortrag des Kongresses der in Lugano wirkende Theologe Manfred Hauke. Im täglichen Gebet der Mitglieder der Legion Mariens, der "Catena", die ebenfalls das "Magnificat" enthält, werde Marias "geistliche Mutterschaft" hervorgehoben und Bezüge zu ihr als geistliche "Heerführerin" hergestellt. Die abschließenden Gebetsworte seien den liturgischen Texten vom 1921 durch Papst Benedikt XV. in Belgien eingeführten Fest Mariens als "Mittlerin aller Gnaden" entnommen.
Zu einem Dogma der universalen Gnadenmittlerschaft Mariens, welches der belgische Kardinal Désiré-Joseph Mercier angestrebt habe, habe sich der Vatikan jedoch nicht durchgerungen, auch wenn er 1922 drei päpstliche Kommissionen zur Klärung dieser Frage eingesetzt habe und die Debatte auf dem Zweiten Vaticanum weitergeführt worden sei. "Ökumenische Rücksichten" und der von Papst Johannes XXIII. gewollte pastorale Charakter des Konzils hätten dann schlussendlich dagegen gesprochen.
Dennoch sei in der Konstitution "Lumen Gentium" die "Mutterschaft Mariens in der Gnadenökonomie" angesprochen und Maria als Fürsprecherin, Helferin, Beistand und Mittlerin bezeichnet worden. Maria füge der Würde und Wirksamkeit Christi, des einzigen Mittlers, nichts hinzu, werde dabei betont. Die "Einzigkeit der Mittlerschaft des Erlösers" schließe "im geschöpflichen Bereich eine unterschiedliche Teilnahme an der einzigen Quelle in der Mitwirkung nicht aus, sondern erweckt sie", zitierte Hauke aus den Konzilstexten. Deren Fußnoten-Verweise auf Kirchenväter und das päpstliche Lehramt bräuchten im Falle einer Dogmatisierung nur "in den Haupttext gestellt werden", sah der Theologe die Vorarbeit dafür bereits weit vorangeschritten.