Ethik- und Hospizexperten warnen vor "Ungleichgewicht" und fehlender Wahlfreiheit für Lebensmüde.
Österreich steuert auf die erstmalige Legalisierung von Suizidbeihilfe per Jahresbeginn 2022 zu, hat aber den dafür als Bedingung gestellten Ausbau der Hospiz- und Palliativversorgung bislang nicht umgesetzt: Diese Kritik haben Experten in einem Bericht der "Wiener Zeitung" (Montag, 29. November 2021) geäußert. Sterbehilfe werde zu einem Zeitpunkt möglich, zu dem es noch lange keine flächendeckende Palliativversorgung und Schmerzlinderung gibt, so der gemeinsame Tenor.
Suizidbeihilfe drohe somit bei Suizidgedanken aufgrund einer unheilbaren, zum Tod führenden Krankheit oder anhaltender Symptome das erste Mittel der Wahl zu werden, nicht die Palliativversorgung.
Der Ausbaugrad der abgestuften Versorgung sei "erst zur Hälfte umgesetzt", berichtete die Palliativmedizinerin Christina Grebe, Vizepräsidentin des Dachverbandes Hospiz Österreich. Gefordert wurde diese Versorgung jedoch zuletzt im Dezember 2020, und zwar von höchster Stelle: Durch den Verfassungsgerichtshof (VfGH), der im Zuge der Liberalisierung des assistierten Suizids Zugang zu Palliativmedizin für alle Betroffenen verlangt hatte. Allerdings war ein solides Netz für Hospiz- und Palliativversorgung schon 2002 versprochen worden, mit Einrichtungen von Lehrstühlen und Unilehrgängen ab 2005 und einer umfassenden Definition dieser Versorgung im österreichischen Strukturplan Gesundheit 2010.
Aktuell sei es noch immer so, "dass ein Palliativpatient bis zu drei Wochen warten muss, bis Hilfe kommt. Da ist es dann vielleicht zu spät", ergänzte gegenüber der "Wiener Zeitung" die Ethikerin Susanne Kummer vom Institut für Medizinische Anthropologie und Bioethik (IMABE). Ebenfalls könne der Fall eintreten, dass die zugesagte Palliativbetreuung nach 28 Tagen nicht verlängert wird. Damit würden Menschen in existenziellen Krisensituationen und mit ihren Schmerzen strukturell alleingelassen und nur noch wollen, dass es vorbei ist. Ein Zustand, den Kummer stark kritisierte: "Wo von selbstbestimmtem Suizid die Rede ist, muss es auch Wahlfreiheit zum Leben geben. Da haben wir ein Ungleichgewicht."
Laut Ankündigungen der Regierung ist für den Palliativ- und Hospizausbau die Schaffung eines Fonds geplant, über den der Bund ab 2022 den Ländern jährlich einen Zweckzuschuss zur Verfügung stellen soll. Vorgesehen ist eine Drittelfinanzierung durch Bund, Länder und Gemeinden, für die es im ersten Jahr allein vom Bund 21 Millionen Euro, 2023 dann 36 Millionen und 2024 51 Millionen Euro geben soll. Ob es klappt, dass bei voller Ausschöpfung durch Länder und Gemeinden dann 2024 bereits insgesamt 153 Millionen zur Verfügung stehen, scheint jedoch fraglich: Nicht zuletzt, da das Palliativ-und Hospizwesen nicht regelfinanziert ist und die Zuständigkeiten nicht eindeutig zwischen dem Gesundheits- und Sozialbereich und den Sozialversicherungen abgestimmt sind.
Laut dem Präsidenten der Österreichischen Palliativgesellschaft, Dietmar Weixler, wäre eine Frist für den Start der Suizidbeihilfe nötig gewesen, um zuvor Klarheit bei dieser Abstimmungsfrage und bis zur Umsetzung der Mitwirkung herbeizuführen. Weixler nannte gegenüber der Zeitung Belgien als Beispiel: Dort sei die Sterbehilfe erst dann legalisiert worden, als die Palliativversorgung ihre notwendige Struktur hatte - womit Belgien heute zu den Ländern mit der am besten entwickelten Palliativversorgung zählt. In Österreich war allerdings kein Aufschub durch das Parlament mehr möglich, da so oder so das VfGH-Erkenntnis bezüglich der Mitwirkung am Suizid bereits 2022 schlagend wird.
Ungewiss ist beim Sterbeverfügungsgesetz, dessen Regierungsvorlage nun beim Parlament liegt, unter anderem noch die Finanzierung der Sterbehilfe - von der ärztlichen Aufklärung bis hin zum tödlichen Präparat aus der Apotheke, das der Betroffene dann selbst einnehmen muss. Laut Regierungsvorlage müssen zwei Ärzte, einer von diesen mit palliativmedizinischer Qualifikation, die Schwere der Krankheit bestätigen und auch, dass die suizidwillige Person entscheidungsfähig ist. Der Dachverband der Sozialversicherungen hat allerdings bereits klargestellt, nur Kosten einer Krankenbehandlung würden von einer gesetzlichen Sozialversicherung abgedeckt, nicht jedoch ärztliche Aufklärung und allenfalls erforderliche begleitenden Maßnahmen bei Suizidbeihilfe.