Rituale sollen dem Leben dienen und nicht zum Selbstzweck werden.
Rituale sollen dem Leben dienen und nicht zum Selbstzweck werden.
Interview mit Dr. jur. Brigitte Ettl über die Rituale zur "Reinigung von Leib und Seele"
Mit der kommenden Jahreszeit wird die Zeit des Frühlings„putzes“ verbunden: Warum?
Ettl: Der Winter ist in unseren Breiten die Zeit der geschlossenen Türen und Fenster, Wärme ist kostbar. Jetzt steigen die Temperaturen, offene Fenster sind keine Energieverschwendung mehr. Zusätzlich erhöht sich die Zahl der Sonnenminuten pro Tag spürbar – und damit bekommen wir alle wieder mehr Energie.
Dieser Schwung wird dann auch für Aktivitäten genützt, die uns im Winter schwer gefallen sind. Zusätzlich unterstützt uns die Aufbruchstimmung in der Natur – die leuchtenden Farben der ersten Blätter und Blüten machen auch unserer Seele Mut zu Neubeginn und Aufbruch.
Was muss jetzt „raus?“
Ettl: „Müssen“ tut gar nichts raus – wenn gerade andere Fragen des Lebens auf Antworten warten, kann der Frühlingsputz auch im Sommer oder Herbst stattfinden.
Rituale sollen dem Leben dienen und nicht zum Selbstzweck werden. Wenn aber Schwung für das Ausmisten da ist, kann es alle Lebensbereiche umfassen: Angefangen von den äußeren Hüllen Wohn- und Arbeitsraum, über Kleiderschrank und Bücherregal bis zur Arbeit an selbstschädigenden Gewohnheiten und Einstellungen.
Wichtig ist, sich realistische Ziele zu setzen. „Jäger- und Sammlertypen“ werden nie zu Asketen, für die das Nichts die Fülle bedeutet.
Was gehört generell zur „Reinigung“ von Leib und Seele?
Ettl: Der erste Schritt ist die Bestandsaufnahme: Welche Schätze sind zu einer Belastung geworden? Was tut mir gut? Was schadet mir?
Diese Zwischenbilanz braucht Zeit, braucht ein bewusstes Innehalten, sonst wird es mir kaum gelingen, die Spreu vom Weizen in meinem Leben zu trennen.
Je nach Bereich, der neu geordnet werden soll, werde ich mir dafür unterschiedlich Zeit nehmen: von einigen Minuten für den Kleiderschrank bis zu Tagen der Stille im Rahmen von Exerzitien für größere Weichenstellungen in meinem Leben.
Der zweite Schritt ist dann die eigentliche Entscheidung: Ja, ich will da etwas verändern. Ich will mich von diesem und jenem trennen, verabschieden, um (Lebens-) Raum zu gewinnen für Werte, die mir wichtiger sind.
Der dritte Schritt ist dann der tatsächliche Beginn, es wird ernst mit dem Frühlingsputz. Erste Umsetzungsschritte werden unternommen.
Erfahrungsgemäß wird das Ziel eher erreicht, wenn die ersten Schritte klein und bescheiden ausfallen – damit aber eher zu motivierenden Erfolgserlebnissen führen.
Es gibt gegenwärtig in der Gesellschaft einen Kult des Leiblichen (vom Diät- bis
zum Fitnesswahn) : Kommt die Seele zu kurz?
Ettl: In meiner Arbeit sehe ich durchaus die Sehnsucht der Menschen nach einem ganzheitlichen Zugang zu ihrer Lebensgestaltung, der Körper und Seele gleichwertig wahrnimmt – ganz nach der Aufforderung von Teresa von Avila: „Tue deinem Leib Gutes, damit deine Seele Lust hat, darin zu wohnen.“
Allerdings fehlt uns in der christlich-abendländisch geprägten Welt hier die verbindende Tradition. Viele Menschen finden dies heute in Philosophien aus dem asiatischen Bereich wie zum Beispiel in vielfältigen Formen von Yoga, die Körper- und Geisteshaltungen gleichermaßen unterstützen.
Vielleicht ist die besondere Betonung der körperlichen Dimension in der Gegenwart noch immer die Antwort auf deren Vernachlässigung in vergangenen Jahrhunderten.
Es ist auch ein Auftrag an uns, hier wieder eine gute Balance und entsprechende Wege zu finden.
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