Die Einkaufstouren decken mehrere Bedürfnisse ab
Die Einkaufstouren decken mehrere Bedürfnisse ab
Interview mit Psychotherapeutin Brigitte Ettl über den Hunger nach Selbstwert und Selbstvertrauen
Junge Erwachsene sind einerseits frei wie nie, andererseits oft auch sehr orientierungslos. Warum?
Ettl: Meiner Ansicht nach sind heute viele junge Erwachsene überfordert, Entscheidungen zu treffen. Sie haben punkto Ausbildung und Beruf, auch im privaten Bereich, eine Fülle an Möglichkeiten. Dies erschwert ihnen aber das Ja zu einem bestimmten Weg.
In der Öffentlichkeit werden ihnen sehr widersprüchliche Werte und erstrebenswerte Ziele kommuniziert: einerseits soll es eine Karriere sein mit hohem Einkommen und Status. Auf der anderen Seite muss ausreichend Zeit für Privatleben und Vergnügen sein. Dieser Spagat überfordert viele – und sie verharren wie gelähmt.
Shoppen die jungen Erwachsenen deshalb so gern beinahe „bis zum Umfallen“?
Ettl: Die Einkaufstouren decken mehrere Bedürfnisse ab: Meist sind die jungen Erwachsenen gemeinsam unterwegs – sie erleben also Gemeinschaft.
Einkaufen bedeutet aber auch eine Teilnahme an der Gesellschaft der Erwachsenen – sie haben das Gefühl, dazuzugehören. Die gekauften Produkte – Kleidung, Kosmetik, Elektronik – sind Status-Symbole und damit quasi die vermeintliche „Eintrittskarte“ zu einer bestimmten Clique.
Und kurzfristig wird auch der Hunger nach Selbstwert und Selbstvertrauen gestillt – nach der Devise: „Ich kaufe, also bin ich.“
Junge Erwachsene sind heute auch finanziell lange von ihren Eltern abhängig. Auf sie wartet eine Welt, in der die Jobperspektiven weniger stabil sind. Wirkt sich die Angst (vor der Krise) auf ihre Lebensgestaltung aus?
Ettl: Das erlebe ich sehr unterschiedlich. Es gibt junge Erwachsene, die ihren Ausbildungsweg sehr zielstrebig absolvieren, die schon früh den Mut und auch die Möglichkeit haben, einen Teil ihrer Ausbildung im Ausland zu absolvieren.
Diese Gruppe hat meist viel Selbstvertrauen und Optimismus. Sie vertrauen auch ihrer eigenen Flexibilität und Mobilität und sind zuversichtlich, dass sie immer wieder ihren Platz finden werden.
Dann gibt es aber auch jene jungen Menschen, die oft schon in der Schule mehrmals die Erfahrung des Scheiterns machen mussten. Auf Grund dieser Erfahrungen ist ihr Optimismus und ihr Selbstwertgefühl geringer. Sie haben Angst, die sie aber weder sich selber eingestehen wollen noch anderen zeigen können. Sie kompensieren diese Angst oft mit besonders provokantem Auftreten, was ihre Situation noch erschwert.
Wichtig erscheint mir, ihnen stabile Beziehungsangebote zu machen. Gerade diese jungen Menschen brauchen die Erfahrung, dass jemand hinter ihnen steht und ihnen – trotz Rückschlägen – vertraut.
Selbstentfaltung – Leistung, Lebensgenuss – Erfolgsdruck: Wie vereinen junge Erwachsene Werte, die eher widersprüchlich erscheinen?
Ettl: Wie gut die Balance zwischen diesen beiden Polen gelingt, hängt davon ab, wie dieser Ausgleich zuhause bei den Eltern gelebt wurde. War da Arbeit ein zentraler Wert, oder gab es auch ausreichend Zeit für Vergnügen und Spiel?
Auch in diesem Bereich sind die Eltern wichtige Vorbilder. Je älter die jungen Erwachsenen sind, desto wichtiger ist auch die Lebenskultur, die sie in ihrem Freundeskreis vorfinden.
Wenn es hier „cool“ ist, gute Noten zu haben, werden sie den Mut haben, auch einmal darauf zu verzichten, am Wochenende die Nacht zum Tag zu machen. Um es dann am nächsten Wochenende möglicherweise noch mehr genießen zu können.
Dr. jur. Brigitte Ettl
hat am Wiener Schwedenplatz eine Praxis für Psychotherapie, Wirtschaftscoaching und Mediation.
Tel: 0676/431 40 74 oder
Internet: www.brigitte-ettl.at
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