Das Einzige, was ihm nicht verlorengeht, ist das Herz: die Freude an Begegnung, Berührung, Nähe.
Das Einzige, was ihm nicht verlorengeht, ist das Herz: die Freude an Begegnung, Berührung, Nähe.
Je weniger rundherum da ist, desto stärker tritt sein pures Leben hervor – und es ist groß.
Zu Allerheiligen war in vielen Predigten davon die Rede, dass Heilige diejenigen Menschen sind, die die Vollendung ihres Lebens erreicht haben. Ein vollendetes Leben – ja, das klingt gut.
Ich habe daran gedacht, als ich meinen Vater besucht habe. Er ist längst auf einer Reise ins Innere, die medizinische Bezeichnung dafür lautet: vaskuläre Demenz.
Und ich habe darüber gegrübelt, dass dieser letzte Weg so wenig von einer Vollendung an sich hat. Meinem Vater, der so gerne geschrieben, diskutiert, vorgetragen hat, sind die Worte abhandengekommen.
Er kann nur noch wenig sagen, noch weniger verstehen. „Sehen ohne Sicht“, hat er es selber genannt.
Nun kann er auch nicht mehr gehen oder stehen. Das Einzige, was ihm nicht verlorengeht, ist das Herz: die Freude an Begegnung, Berührung, Nähe.
Er wird in vielem immer mehr wie ein Kind, so wie er auf die Welt gekommen ist. Und das ist dann doch auch wieder ein Hindeuten auf die kommende Vollendung: Seine wirklichen Schätze sind schon „drüben“ – und als er meiner Schwester erklärt hat, er möchte nun nachhause (obwohl er ja weiter daheim wohnt), und sie ihn gefragt hat, woran er denn das Zuhause erkennen würde, da hat er geantwortet: „Kein Muss.“
Was er auf Erden besessen hat, fällt Stück für Stück von ihm ab. Und je weniger rundherum da ist, desto stärker tritt sein pures Leben hervor – und es ist groß.
Ich bin hin- und hergebeutelt vom tiefen Eindruck, den mir gerade jetzt sein Leben macht, und von dem Schrecken davor, dass es am Ende, bald, in sich zusammenfallen wird.
Aber ich weiß, was der Dichter Rainer Maria Rilke unnachahmlich gesagt hat: „Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält.“ Und der alles Leben neu aufrichten, vollenden wird.
Dr. Michael Prüller ist Chefredakteur des "Sonntag" und Kommunikationschef der Erzdiözese Wien.
E-Mail-Adresse: redaktion@dersonntag.at
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