Gerade weil das Christentum an das Jenseits glaubt, ist die Vorbereitung darauf, das Diesseits, so wichtig.
Gerade weil das Christentum an das Jenseits glaubt, ist die Vorbereitung darauf, das Diesseits, so wichtig.
Christen werden nicht aufs Jenseits vertröstet, sondern aus dem Jenseits getröstet
Ein gängiger Vorwurf an das Christentum bzw. die Kirche ist, dass sie die Menschen viele Jahrhunderte lang nicht aus Unterdrückung befreit, sondern auf das Jenseits vertröstet hat.
Ich denke, in diesem Vorwurf ist – wie so oft – Wahres mit Falschem vermischt. Es stimmt, dass die Kirche in vielen Fällen Knechtschaft als gottgegeben hingenommen hat. Manchmal hat sie ihre Herrschaft sogar mit Waffen gegen ihre Untertanen verteidigt. So haben etwa die ersten Kämpfe der oberösterreichischen Bauernkriege des 15. und 16. Jahrhundert zwischen mächtigen Stiften und ihren Bauern stattgefunden.
Aber ein bloßes Vertrösten auf das Jenseits war zu keiner Zeit typisch für die Kirche. Im Gegenteil: Gerade weil das Christentum an das Jenseits glaubt, ist die Vorbereitung darauf, das Diesseits, so wichtig. Und Gott hat unser Leben hier auf Erden so wichtig genommen, dass er es mit uns geteilt hat.
Wie es den Menschen im Diesseits geht, war der Kirche daher dort, wo sie wirklich fromm war, nie egal. Ich nenne nur die Spitäler und die Volksschulen (die erste für arme Kinder wurde vor 420 Jahren in Rom gegründet), die Armenfürsorge und das Asyl für Verfolgte.
Wenn die Kirche am 1. Juni den „Tag des Lebens“ begeht – und viele Pfarren in den Wochen drumherum Aktivitäten setzen –, dann geht es genau um das: Das Leben jedes Menschen in dieser Welt ist uns heilig. Nicht obwohl, sondern weil wir an das ewige Leben glauben. Weil Gottes Barmherzigkeit, sein Mitleid und sein Wohlwollen jedem seiner Kinder gilt und das schon hier und jetzt.
Der deutsche Autor Peter Hahne hat geschrieben: Christen werden nicht aufs Jenseits vertröstet, sondern aus dem Jenseits getröstet. Und – das möchte ich hinzufügen – von dort her auch dazu gedrängt, das irdische Leben aller anderen zu lieben, zu achten, zu ehren und zu unterstützen.
Der Autor:
Dr. Michael Prüller ist Kommunikationschef der Erzdiözese Wien und Geschäftsführer der St. Paulus-Medienstiftung.
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