Nach der Ent-Bindung ist es wichtig, dass sofort neue Bindungsprozesse (Bonding) beginnen.
Nach der Ent-Bindung ist es wichtig, dass sofort neue Bindungsprozesse (Bonding) beginnen.
In einer an Bindungslosigkeit leidenden und geburtsvergessenen Gesellschaft entdeckt Dr. Barbara Maier das „Prinzip der Natalität“: Im SONNTAG-Interview spricht sie mit Stefanie Jeller über das Wunder der Geburt und über die Bedeutung der Mutter-Kind-Bindung.
DER SONNTAG: Was sind Ihre ersten Gedanken bei der Geburt eines Kindes?
Prim. Dr. Barbara Maier: Wir hoffen natürlich, dass das Kind gesund ist, dass es schreit und dass die Geburt ein gelungenes Ereignis der Familiengründung ist.
Wie viele Geburten erleben Sie im Jahr?
Prim. Dr. Barbara Maier: Im Wilhelminenspital sind es bis zu 1.700. In der Frauenklinik Salzburg waren es 2.500 im Jahr. Und in meinem Leben dürften es schon über 5.000 Geburten gewesen sein.
Gibt es da noch Momente, in denen Sie staunen können?
Prim. Dr. Barbara Maier: Ganz sicher. Am intensivsten gestaunt habe ich, als meine Tochter zur Welt kam.
Darüber, dass ich die Chance bekommen habe, ein Kind zur Welt zu bringen. Sie ist jetzt 30 Jahre alt. Wenn ich den Kreißsaal betrete, habe ich noch immer dieses schöne Gefühl in mir. Schade, dass in unserer Gesellschaft so etwas wie „Geburtsvergessenheit“ vorherrscht.
Wie läuft eine Geburt ab?
Prim. Dr. Barbara Maier: Eigentlich ist eine Geburt etwas ganz Normales! Es kommt aber auch sehr auf den „Rucksack an Erfahrungen“, den eine Frau mit sich schleppt, an: ob sie lange einen unerfüllten Kinderwunsch hatte; ob sie mit dem Kind alleine sein wird, weil sie keinen Partner hat; ob eine anonyme Geburt geplant ist, weil die Mutter sich nicht in der Lage sieht, das Kind aufzuziehen…
So schön eine Geburt ist, so herausfordernd kann sie sein – in psychosozialer und medizinischer Perspektive, wenn medizinisches Eingreifen aufgrund von Komplikationen notwendig wird.
Was sind Ihre Aufgaben bei einer Geburt?
Prim. Dr. Barbara Maier: Die Hebamme ruft mich, und dann geht es vor allem darum, die Frau zu begleiten und in ihrer Gebärkompetenz zu stärken.
Wichtig ist eine gute Vorbereitung, auch dass die Frau ein Urvertrauen in ihre Gebärkompetenz mit in die Geburt nimmt.
Ich habe eine Ausbildung in Psychotherapie und Psychodrama. Das ist hilfreich – auch im Kreißsaal, um die Emotionen zu ordnen, Ruhe hineinzubringen und die Geburt zu einem schönen Erlebnis werden zu lassen.
Sie haben auch ein abgeschlossenes Theologiestudium. Warum sind Sie Ärztin geworden?
Dr. Barbara Maier Ich habe vorher Geschichte, Russisch und Theologie studiert, und mich mit Philosophie und all diesen schönen Dingen beschäftigt…
Aber ich wollte mich auch in der Praxis nützlich machen. So habe ich als unausgebildete Hilfsschwester in einem Krankenhaus Wochenenddienste gemacht.
Dann wollte ich Krankenschwester werden, bin aber nicht genommen worden und so habe ich schließlich Medizin studiert.
Am Anfang der Wissenschaft steht das Staunen. Das meinten die griechischen Philosophen. War das bei Ihnen auch so?
Prim. Dr. Barbara Maier: Ja! Mein Philosophieprofessor, Karl-Augustinus Wucherer von Huldenfeld, begann seine Vorlesungen mit dem Satz: „Warum ist etwas, und nicht vielmehr nichts?“
Eine Geburt ist so ein Vorgang, der uns in Staunen versetzt; aber auch die vielen Möglichkeiten in der Medizin, in der Neurowissenschaft.
Bei mir wächst mit dem Staunen auch die Demut: Je mehr ich an Wissen und Erfahrung gewinne, umso mehr wird mir klar, dass das nur die Spitze des Eisbergs ist.
Der Mensch kommt durch die Enge des Geburtskanals zur Welt. Das muss eine starke Erfahrung sein...
Prim. Dr. Barbara Maier: Wenn die Zeit reif ist, kommt es zu einer Hormonausschüttung und zur Wehentätigkeit. Das ist eine Mutter-Kind-Interaktion. Das Kind wird in den Geburtskanal befördert.
Die Geburt ist eine große Anstrengung für beide, denn der Geburtskanal ist eng!
Natürlich kann sich niemand daran erinnern. Die pränatale Psychologie sagt uns, dass es Erfahrungen sind, die auch unser weiteres Leben begleiten.
… dass man einmal irgendwo durch musste?
Prim. Dr. Barbara Maier: Ja, eine Erfahrung, dass man das geschafft hat. Allerdings kommen 30 Prozent der Kinder durch Kaiserschnitt zur Welt. Diese Erfahrung des Durchkommens ist dann so nicht gegeben.
Was fehlt Kindern, die durch Kaiserschnitt geboren werden?
Prim. Dr. Barbara Maier: Schwer zu sagen, denn die Persönlichkeitsentwicklung ist zu komplex, um auf den Geburtsmodus rückzuschließen. Aber die natürliche Geburt hat Vorteile, etwa weil das Kind mit dem Keimspektrum der Mutter in Kontakt kommt und das ist gut für die Immunsituation des Kindes.
Über die Nabelschnur sind Mutter und Kind monatelang verbunden …
Prim. Dr. Barbara Maier: Ja, und die Geburt ist dann eben eine Ent-bindung. Da ist es wichtig, dass gleich neue Bindungsprozesse (Bonding) beginnen: Das Neugeborene soll auf die Haut der Mutter gelegt werden, damit es mit ihr Kontakt aufnimmt und den Stress der Entbindung überwindet. Wenn Bonding-Prozesse gelingen, sind sie eine wichtige Quelle für die späteren Beziehungen des Lebens.
Sie sprechen vom „Prinzip der Natalität“. Was meinen Sie damit genau?
Prim. Dr. Barbara Maier: Wir sind von Anfang an hineingeboren in eine Mutter-Kind-Beziehung, eine Familie, eine Gesellschaft, auch in einen genetischen Pool sowie in ein Gewebe von Emotionen.
Wir werden immer in Beziehungen verwoben bleiben, selbst wenn wir die Beziehung zu unseren Eltern abbrechen.
Der Ausdruck Natalität stammt von Hannah Arendt, das philosophisch-ethische Konzept dazu habe ich für die Geburtshilfe erarbeitet, um in unserer Gesellschaft, die an Beziehungslosigkeit und an schwierigen Beziehungen leidet, zu zeigen, wie wichtig Geburtsvorgänge und Bindungsprozesse sind.
Wir gehen auf Weihnachten zu, das Fest einer Geburt.
Prim. Dr. Barbara Maier: Es wäre bereichernd, wenn wir uns wieder mehr auf die Geburt besinnen!
Im Leben ist nicht alles machbar und es ist wichtig, guter Hoffnung zu sein und zu bleiben – in der Geburt, im Beruf, in Beziehungen und im philosophischen Nachdenken.
Das Gespräch führte Stefanie Jeller.
Dr. Barbara Maier ist Vorständin der Abteilung für Gynäkologie und Geburtshilfe des Wilhelminenspitals.
Von 2012 bis 2015 war sie Primarärztin im Hanusch-Krankenhaus,
von 1996 bis 2012 Fachärztin für Gynäkologie in den Salzburger Landeskliniken.
Von 2001 bis 2013 war sie Mitglied der Bioethikkommission.
Gemeinsam mit Warren A. Shibles hat sie 2010 das Fachbuch „The Philosophy and Practice of Medicine and Bioethics“ verfasst.
„The Philosophy and Practice of Medicine and Bioethics“
Gebundene Ausgabe: 543 Seiten
Verlag: Springer; Auflage: 2011 (11. November 2010)
Sprache: Englisch
ISBN: 978-9048188666
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Staunen und Wissen
Eine Sendereihe auf radio klassik Stephansdom. Nachzuhören auf
www.radioklassik.at im Podcast, Kategorie Perspektiven.
E-Mail-Adresse: redaktion@dersonntag.at
Weitere Informationen zu "Der SONNTAG" die Zeitung der Erzdiözese Wien