Die strukturelle Benachteiligung der Frau in Indien sowie die Situation der kastenlosen Bevölkerung bilden den Problemrahmen für die jüngsten brutalen Vergewaltigungen auf dem Subkontinent. Die Texte zu der am Freitag, 18. Jänner 2013, beginnenden diesjährigen ökumenischen "Weltgebetswoche für die Einheit der Christen" (18.-25. Jänner) widmen sich speziell den Ausgegrenzten in Indien. Der Themenschwerpunkt für 2013 hat mittlerweile noch größere Aktualität bekommen als zum Zeitpunkt, als die Texte erstellt wurden.
Federführend bei der Erstellung war die Christliche Studentenbewegung Indiens (SCMI). "Glaube wird bedeutungslos, wenn er nicht nach Gerechtigkeit fragt", mahnt die SCMI.
Indischen Medien zufolge war der Vater des Anfang Jänner zu Tode gekommenen 23-jährigen Vergewaltigungsopfers ein einfacher Arbeiter, der zur Ermöglichung des Studiums seiner Tochter ein Stück Land verkaufte. Man werde dadurch auch auf die Lage der Christen im Land aufmerksam. Denn von den 20 Millionen Angehörigen christlicher Kirchen in Indiens sind über 14 Millionen Dalits (Ureinwohner außerhalb des Kastensystems).
Weltweit bekannt wurde das Schicksal der Dalits 2008, als 50.000 ihrer christlichen Angehörigen im Bundesstaat Orissa von fundamentalistischer Hindu aus ihren Dörfern und Städten vertrieben wurden. 70 Menschen wurden dabei ermordet, 5.000 Häuser und kirchliche Gebäude angezündet. "Man kann die Suche nach der sichtbaren Einheit nicht vom Abbau des Kastenwesens und vom Aufbau der Beteiligung der Ärmsten trennen", mahnen die Weltgebetswochen-Autoren, und sie erinnern daran, dass Dalits auch heute noch "sozial ausgegrenzt, politisch unterrepräsentiert, wirtschaftlich ausgebeutet und kulturell unterjocht" werden.
Ein ebenso schwelendes Problem Indiens ist die Benachteiligung der Frau, wie die aktuellen Vorfälle gezeigt haben. "Vergewaltigung gilt in Indien als Kavaliersdelikt und die Frauen sind verfügbare Masse für Männer", urteilt Simone Rappel, Indien-Expertin beim katholischen Hilfswerk "missio" in München gegenüber "Radio Vatikan". Die Massenproteste in der aufbrechenden Demokratie Indien betreffen zwar primär die Brutalität des Vergehens, dahinter stehe aber auch die Dimension des kriminellen Delikts "Zigausender Vergewaltigungen". Polizeiangaben zufolge wird in Delhi alle 18 Stunden, Indien-weit alle 20 Minuten eine Frau vergewaltigt.
Zugleich bestehe jedoch auch das tiefergehende Problem einer Sozialisierung in ein Symstem, in dem Frauen eine "zweitklassige, immer verfügbare Ware" sind, analysierte Rappel weiter: "Mädchen sind unerwünscht." Während Söhne in diesem traditionellen System Geld bringen, kämen Töchter für die Eltern teuer. Eine der Folgen ist, dass Mädchen häufiger abgetrieben werden: Auf 1.000 Männer kommen in Indien heute nur noch 940 Frauen.
Zu einem Wandel nötig ist in den Augen der "missio"-Expertin nicht die Abkehr vom Mitgiftsystem, sondern unter anderem auch vom Verbrennungsritus des Hinduismus, bei dem stets der Sohn den Scheiterhaufen entzünden muss, um somit die Seele des verstorbenen Elternteils freizusetzen. "Solange die Sohnespräferenz so religiös zementiert ist und dieses Ritual den Sohn verlangt, solange wird auch von der Religion her die Zweitklassigkeit der Frau unterstützt", urteilte Rappel.
In der katholischen Kirche Indiens kümmert sich eine eigene bischöfliche Kommission um die Verbesserung der Situation und Rechte der Frauen. Zahlreiche kirchliche Projekte des Empowerments, der Alphabetisierung und der Selbsthilfe für Frauen sollen zu einem Bewusstseinswandel beitragen. "Nötig ist ein allgemein verbreiteter Sinn für den Respekt. Die indische Gesellschaft braucht endlich eine Anerkennung der Gleichstellung von Mann und Frau", betonte Kardinal Oswald Gracias, Erzbischof von Mumbai und Vorsitzender der indischen Bischofskonferenz, gegenüber "Radio Vatikan".
Die Katholische Frauenbewegung Österreich (kfb) macht den Einsatz gegen Gewalt an Frauen zum Thema ihrer diesjährigen Aktion Familienfasttag. Vielerorts im globalen Süden seien Frauen stark durch Gewalt und sexuelle Übergriffe gefährdet, wobei nur wenige Fälle zur Anzeige gebracht werden und diese selbst dann von Gerichten oft jahrelang verschleppt werden. "Die aktuellen Vorfälle von Delhi sind kein Indien-spezifisches Problem. Sie stehen symbolisch für die strukturelle Benachteiligung von Frauen in Nicaragua, Nepal, Kolumbien und vielen anderen Ländern", so die kfb in einer Aussendung.