Samstag 14. September 2024
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"Europa sollte das katholische Experiment wagen"

(05.06.2012) Kurienkardinal Brandmüller referierte bei einer Tagung im Stift Heiligenkreuz über den "Beitrag der Kirche zur Zukunft Europas".

Europa wird die katholische Kirche brauchen, will es überhaupt eine Zukunft haben. So lautete die Grundbotschaft eines Vortrags von Kurienkardinal Walter Brandmüller am Sonntag, 3. Juni 2012, in Stift Heiligenkreuz. Angesichts der großen, in antikirchlich-ideologischem Boden wurzelnden Katastrophen des vergangenen Jahrhunderts sei es an der Zeit, "das katholische Experiment" zu wagen, rief Brandmüller zu mehr politischem und sozialem Engagement der Katholiken auf. Der Kurienkardinal referierte in Heiligenkreuz im Rahmen einer Tagung über die "Diktatur des Relativismus".

 

Zwei große Baustellen für die Kirche

Konkret ortete Kardinal Brandmüller zwei große Baustellen, an denen die Kirche heute einen wichtigen Dienst zu leisten hätte: die "Wiederentdeckung des natürlichen Sittengesetzes" und die Bewahrung der "Offenheit für die Transzendenz" in der Gesellschaft. Gegenwärtig sei Europa kulturell durch "unvorstellbare moralische Verwüstungen" gekennzeichnet. Stichworte seien die Geringschätzung des Lebens, die durch verantwortungslose Spekulationen ausgelösten Finanzkrisen, aber auch Organhandel, Abtreibung und Sterbehilfe. Europa stehe heute "vor einem kaum vorstellbaren Verfall von Humanität und Kultur", so die Diagnose des Kardinals.

Das natürliche Sittengesetz (Naturrecht) erfreue sich keines Respekts mehr - im Gegenteil, ein sich im 20. Jahrhundert breit gemachter Rechtspositivismus habe alle Versuche, das Recht an raum-und zeitübergreifende Normen zu binden, in Misskredit gebracht. Dagegen müsse unterstrichen werden, dass ein alleiniger Rechtspositivismus "in die Irre und ins Chaos" führe - wie man etwa am NS-Regime studieren könne, wo offensichtliches Unrecht positivistisch ins Recht gesetzt worden war.

 

Gegen die "Wahrheitsvergessenheit"

Mit dieser Naturrechts-Vergessenheit gehe laut Brandmüller auch eine "Wahrheitsvergessenheit" einher. Auch auf diesem Feld müsse die Kirche heute aktiv werden und für die Wiederentdeckung eines die Transzendenz achtenden Wahrheitsbegriffs eintreten. Philosophische Schulen wie der Utilitarismus oder der Pragmatismus hätten die Wahrheitsfrage aus der Philosophie verdammt. Dabei müsse man deutlich sagen, dass die Krisen der Gegenwart auch Folgen einer utilitaristischen – nur auf den Nutzen - oder einer pragmatischen - nur auf die Machbarkeit - schielenden Ideologie seien. "Ohne Wahrheit ist die Vernunft gegenstandslos und sinnlos", betonte dagegen Kardinal Brandmüller. Die Wahrheitsvergessenheit befördere einen Relativismus - dieser wiederum sei "ein Irrweg des Denkens".

Für die Kirche bestehe heute daher der Auftrag darin, "der europäischen Gesellschaft von heute und morgen ihren wesentlichen Transzendenzbezug neu bewusst zu machen". Dies sei noch keine Verkündigung des Evangeliums an sich - auch noch keine Neuevangelisierung -, es bereite jedoch durch eine "Humanisierung im vorreligiösen Raum" den Boden für die Verkündigungsarbeit der Kirche.

 

Menschenfreundlichere Gesellschaft

Konkret könne er sich etwa eine Verankerung der Unantastbarkeit der Person, der Verantwortung aller für das Ganze, die Hochachtung vor der Familie sowie die Ehrfurcht vor Schöpfer und Geschöpfen in der Verfassung vorstellen. Wo dies gelinge, würde laut Kardinal Brandmüller "zwar noch nicht das Paradies auf Erden, wohl aber eine weit menschenfreundlichere Gesellschaft entstehen als jene, in der wir heute leben".

Die Tagung "Diktatur des Relativismus" am 2. und 3. Juni versammelte neben Kardinal Brandmüller den Pariser Philosophen und Inhaber des Guardini-Lehrstuhls in München, Remie Brague, den Wiener Philosophen Günther Pöltner, den Münchner Religionsphilosophen und Anthropologen Jörg Splett sowie den in Chile lehrenden Österreicher Josef Seifert.

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