Samstag 19. Oktober 2024
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"Nur die Wahrheit macht frei"

(12.10.2010) Wortlaut des Interviews von Barbara Stöckl mit Kardinal Christoph Schönborn für das Magazin "Grüß Gott".

Die Kurzfassung des Interviews erschien im von der Erzdiözese Wien herausgegebenen Magazin "Grüß Gott", das als Beilage zu Tages- und Wochenzeitungen verbreitet wurde.

 

Barbara Stöckl (BS): Herr  Kardinal, es gab eine kleine Meldung, die besagt, dass im selben Maße wie die Kirchenaustritte zunehmen auch die Wiedereintritte ansteigen. Wie erklären Sie sich diese Entwicklung? Zeigt es, dass alles eine Frage des Blickwinkels ist?

 

Kardinal Christoph Schönborn (KS): Es ist ganz sicher eine Frage des Blickwinkels, denn man kann sagen: das Glas ist halb leer oder man kann sagen: es ist halb voll. Man kann sagen, so viele Menschen gehen von der Kirche weg, man kann aber auch sagen, so viele Menschen sind zumindestens Sympathisanten der Kirche. Und es ist ein unbestreitbares Phänomen unserer Zeit, dass sehr viele Menschen auf der Suche sind, und nicht wenige finden in dieser Suche einen Weg zum Glauben und so auch zur Kirche.

 

BS: Wie sehr beschäftigen Sie etwa die Kirchenaustritte. Oder können Sie mit einer kleiner werdenden Gemeinde auch gut leben?

 

KS: Wir müssen damit leben. Es gibt ein interessantes Phänomen. Die Zahl der Katholiken ist in den letzten zehn Jahren deutlich zurückgegangen. Die Pfarrgemeinden haben in ihrer Caritas-Tätigkeit deutlich zugelegt. Es gibt ein starkes Wachstum der karitativen Tätigkeit der Gemeinden, obwohl die Zahl der Katholiken zurückgeht. Ich schließe daraus, dass die Menschen, die sich in Gemeinden zu Hause fühlen, sich  auch intensiver engagieren, bewusster, stärker. Ein zweites Beispiel: Auf dem Höhepunkt der Missbrauchs-Diskussionen war das Osterfest. Ich habe aus vielen Gemeinden die Meldung bekommen, es waren noch nie so viele Leute bei den Ostergottesdiensten wie heuer.

 

BS: Was sorgt Sie mehr, die Vertrauenskrise oder die Glaubenskrise?

 

KS: Die Glaubenskrise, eindeutig. Denn ist das für das menschliche Leben das wichtigere. Vertrauen in die Kirche: die Kirche ist auch eine Institution, aber es geht um die Menschen. Es geht darum, ob Menschen in dieser Zeit im Glauben einen Halt finden. Das ist die die eigentliche Sorge. Wenn die Kirche diesen Dienst leistet, ist es gut. Wenn sie dazu ein Hindernis ist, dann ist es nicht in Ordnung. Es geht nicht um die Kirche, es geht um die Menschen und um das, was Gott für den Menschen will: dass er lebt und dass er in Fülle lebt.

 

BS: Ich habe gerade gesehen, hier ins Erzbischöfliche Palais wird ein Kindergarten einziehen. Ist das auch eine Entscheidung und eine Tatsache mit großer Symbolkraft?

 

KS: Mich hat ein Industrieller einmal gefragt, haben Sie in der Diözese eigentlich einen Werkskindergarten? Ich hab "nein" gesagt, darauf hat er gemeint: "das darf doch nicht wahr sein, wir haben in jeder unserer Fabriken (es war Monsieur Michelin) selbstverständlich einen Kindergarten, warum haben Sie das nicht?" Das hat mich zum Nachdenken gebracht. Und seither verfolge ich diese Idee und dann hat sich das konkretisiert und jetzt wurde mit den Bauarbeiten begonnen. Gegen Ende des Jahres wird dieser "Kirchen-Kindergarten" im Erzbischöflichen Palais bezugsfähig sein und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hier, können ihre Kinder hierher geben, an einen wunderschönen Platz neben dem Dom.

 

"Man muss die Fenster aufmachen"

BS: Das gilt für das "Unternehmen" Erzdiözese. Aber gilt das auch für die Kirche insgesamt: Muss sie das Leben hereinlassen?

 

KS: Absolut. Man kann wirklich nur sagen - wie Papst Johannes XXIII. es formuliert hat - man muss die Fenster aufmachen, man muss das Leben hereinkommen lassen. Es gibt sehr viel Leben in der Kirche, das darf man auch jetzt nicht kleinreden. Es sind unsere Pfarrgemeinden auch für die Zukunft dieses Landes – die schwieriger und sozial angespannter sein wird - ganz wichtige Inseln, Oasen, wo Menschen Beheimatung finden, Gemeinschaft, ein Netzwerk der Solidarität. Ich sage oft alten Menschen im Gespräch, Fernstehenden oder mit der Kirche nicht verbundenen: "Warum gehen Sie nicht in die Pfarrgemeinde? Da haben Sie eine Gemeinschaft, Sie sind so alleine. Die Kirche ist doch ein Ort, wo auch Sie zu Hause sein können". Und ich glaube, dass, dass wird auch in den kommenden Jahren Menschen mehr bewusst werden.

 

BS: Wie sehen Sie die Chance, der Kirche jenen Stellenwert in der Gesellschaft wieder zu geben, den sowohl Kirche als auch Gesellschaft benötigen, als Taktgeberin für Moral, Ethik und soziale Verantwortung?

 

KS: Das wird nicht mehr so wie früher und das ist auch gut so. Moral ist nicht ein Monopol der Kirche, auch nicht ein Monopol der Christen. Es gibt in unserer pluralistischen, vielfältigen Gesellschaft viele Sinnangebote und es gibt auch Ethos-Angebote, Moralangebote, die nicht unbedingt kirchlich gebunden sind. Wichtig ist, dass in diese Gesellschaft die Impulse des Evangeliums eingegeben werden. Denn eine gewisse Grundmoral ist uns allen hoffentlich gemeinsam, wie sie in den Zehn Geboten zum Ausdruck kommt: Du sollst nicht stehlen, Du sollst nicht lügen, Du sollst nicht morden usw. Das sind Dinge, die eigentlich jeder Mensch versteht. Aber das Evangelium ist ja etwas mehr. Liebe deine Feinde, das ist eine Qualität, wenn die in die Gesellschaft als Input eingebracht wird, da kommt etwas Neues hinzu, das über die Grundmoral hinausgeht. Ich denke dieses Salz des Evangeliums, das brauchen wir in unserer Gesellschaft. Die Botschaft, dass es wirklich Vergebung gibt. Das sind neue Elemente, die immer wieder in die Gesellschaft eingebracht werden müssen! Aber die Kirche ist nicht die moralische Anstalt der Nation. Und ich glaube, das ist auch gut so, dass sie aus dieser Perspektive herauskommt. Das besorgen andere auch und manchmal sogar besser.

 

BS: Wer besorgt’s?

 

KS: Ich denke etwa an eine Organisation wie das Rote Kreuz, die unglaublich viele ehrenamtliche Helferinnen und Helfer hat, sehr viele junge Menschen. Da ist zwar das Kreuz, es erinnert sicher an das christliche Symbol, aber das Rote Kreuz ist eine ganz säkulare Einrichtung ohne religiösen Bezug, aber mit einem großen Ethos. Da wird wirklich Moral der Nächstenliebe gelebt, auch ohne religiösen Bezug. Und das ist gut, dass es eine Vielfalt solcher Einrichtungen in unserem Land gibt, die für Mitmenschlichkeit stehen. Zum Beispiel gibt es viele NGOs ohne einen direkten religiösen Bezug, die sich für Flüchtlinge engagieren, die sich um die Umwelt sorgen. Ich halte es nicht für sinnvoll, davon zu träumen, dass die katholische Kirche die moralische Anstalt dieses Landes ist.

 

BS: Aber vergibt sie damit nicht auch eine große Chance? Gerade in einem großen Moral- und Wertevakuum, das wir im Moment erleben, wo die Leute nach Orientierung suchen? Hätte die Kirche da nicht auch eine große Chance?

 

KS: Erstens glaube ich, dass sozusagen "per Saldo" die Menschen in diesem Land schon ziemlich genau wissen, was gut und was böse ist. Wir regen uns auf, wenn zum Beispiel in den Nachrichten von einem 15-jährigen berichtet wird, der geplant eine Frau umbringen wollte, weil sie eine Prostituierte war. Das spüren alle, dass das nicht rechtens ist, da braucht es auch keine kirchliche Verkündigung dazu. Ich glaube, das Christentum hat mehr in die Gesellschaft einzubringen als die Moral. Ich glaube nicht, dass unsere Gesellschaft moralisch "am Hund" ist. Es gibt Korruption in diesem Land, aber sie ist Gott sei Dank bei weitem nicht so schlimm wie in anderen Ländern und es gibt öffentliche Einrichtungen, die den Leuten sehr genau auf die Finger schauen. Wir haben einen sehr guten Rechnungshof, der genau hinschaut, wir haben eine Bankenkontrolle etc. Wir haben eine funktionierende Justiz, eine funktionierende Exekutive. Ich mache mir um die Moral in unserem Land nicht grundlegende Sorgen. Österreich ist ein Land, in dem es gut zu leben ist. Wenn man ein bisschen in der Welt herumgekommen ist, weiß man das zu schätzen. Aber das, was das Evangelium in eine Gesellschaft einbringen kann, sind Werte, die nicht selbstverständlich sind. Dass ich den Schwachen nicht verachte, das ist nicht spontan; ich brauche Kraft von oben, damit ich dem, der mir übel will, nicht mit derselben Münze zurückzahle, damit ich die Kraft aufbringe, nicht bitter zu werden, wenn mir Unrecht geschehen ist. Das sind die Dinge, die das Evangelium lehrt, die Jesus gelehrt hat. Und die wirklich das Salz einer Gesellschaft sein können und das braucht unser Land schon, das brauchen wir alle. Jesus nennt das die Umkehr, die Bekehrung. Also, eine grundlegende Änderung des Herzens. Das braucht unser Land und das brauchen wir Christen als erste.

 

Nach dem Vorbild Jesu leben

BS: Aber dafür muss man zunächst wissen, was es überhaupt heißt, Christ zu sein. Es reicht nicht aus, an Gott zu glauben. Was bedeutet es , Christ zu sein?

 

KS: Wir, die wir den Namen Christi tragen, müssen auch diesem Namen entsprechend leben. Das heißt nach dem Vorbild Jesu, so wie er gelebt hat, wie er mit Menschen umgegangen ist und wie er letztlich dann auch sein - menschlich gesehen - Scheitern, seinen Tod verstanden hat. Es geht um die Auferstehung, um die Überzeugung,  dass der Tod und das Böse und das Übel und das Elend nicht das letzte Wort haben. Also, was wünsche ich mir für unser Land? Ich wünsche mir viele Menschen, die das Evangelium als das wirklich Neue und Faszinierende entdecken.

 

BS: Muss man dafür die Bibel kennen, muss man dafür in die Kirche gehen? Viele nehmen sich die Passagen aus dem Alten & Neuen Testament, von denen sie meinen, dass sie auch heute noch brauchbar sind. Ist das eine Form von heutigem Christentum?

 

KS: Ich finde es schon einmal sehr gut, wenn jemand seine Bibel halbwegs kennt. Ich glaube, da haben wir alle und viele Menschen in diesem Land noch einiges nachzuholen. Natürlich ist es eine große Hilfe, wenn man regelmäßig in den Gottesdienst geht, weil man dann wirklich mit dem Wort Gottes, mit der Bibel in direkte Berührung kommt und mit dem Wort Gottes konfrontiert wird. Man kann das auch zu Hause machen, man kann das im Freundeskreis machen. Machen soll man’s.

BS: Wie anstrengend ist Religion?

 

KS: Wie anstrengend ist Sport? Ja, es ist ohne Mühe sicher nicht zu machen. Wie niemand Geige spielen kann ohne Mühe, wie niemand ein guter Fußballspieler sein kann ohne viel Training, so kann man auch nicht ein Christ sein ohne Training, das geht nicht. Das Grundtraining ist das Gebet. Wer sich dafür Zeit nimmt, wird durch das regelmäßige Training des Gebets natürlich auch eine Freude daran finden, so wie ein guter Sportler Freude daran findet, wenn er’s kann oder ein Musiker, wenn er’s kann. Aber der Preis ist zu zahlen.

 

BS: Wie steht’s um das öffentliche Bewusstsein für die Ressource "Kirche"?

 

KS: Ich glaube, es gibt so etwas wie ein Oberflächenbewusstsein und ein Tiefenbewusstsein. Das Oberflächenbewusstsein ist sehr oft oberflächlich und stößt sich an den Ärgernissen, den Skandalen, dass ein Pfarrer vergessen hat, eine Trauung wahrzunehmen, dass am Friedhof der Priester irgendwie nicht das richtige gemacht hat etc. Da gibt es viele Möglichkeiten, sich über die Kirche aufzuregen. Und das dann immer über "die" Kirche, ganz global, ganz generell. Aber was das Tiefenbewusstsein betrifft, das erlebt man dann schon etwa in Mariazell. Wenn die Motorradfahrer mit ihren schweren Maschinen und ihren Lederjacken dann kommen und eben doch nach Mariazell fahren. Oder die vielen, die nach Mariazell zu Fuß pilgern. Da merkt man, es ist ein Tiefenbewusstsein da, dass es gut ist, dass es einen Ort wie Mariazell gibt, das ist tiefverwurzelt. Auch wenn man sagt, ich brauch' die Kirche nicht.

 

BS: Nach dem ganzen Missbrauchsskandal gab es vor kurzem von Robert Spaemann einen Artikel im "Focus", wo er unter dem Titel "Warum ich noch unbeirrt katholisch bin" geschrieben hat: "Wessen Glaube an die göttliche Stiftung Kirche abhängt von der Würdigkeit ihrer Amtsträger, der hat noch gar nicht verstanden, als was sich die Kirche selbst versteht: Als Volk Gottes. Jesus vergleicht den Gläubigen mit einer Rebe und sich mit dem Weinstock." Hat er Recht?

 

KS: Ich muss das unbedingt bejahen. Ich glaube nicht, weil der Papst der Papst ist und weil der Bischof der Bischof ist, sondern ich glaube an Jesus Christus, ich glaube an den dreifaltigen Gott, ich glaube an die Auferstehung der Toten. Und ich glaube, dass die Kirche eine Gemeinschaft ist, die aus lauter Menschen besteht, zu denen ich auch gehöre und die wahrscheinlich im Durchschnitt so mittelmäßig sind wie ich. Gott sei Dank gibt es einige, die herausragen, ganz große Gestalten, an denen man sich dann aufrichten kann und manchmal sind das sogar Bischöfe, aber sehr oft sind das einfache Laien, zu denen ich als Mensch und als Christ einfach aufschaue. Wenn ich an meine Adria denke, diese ruandesische Flüchtlingsfrau, die hier in Wien gelandet ist  nach dem Genozid in Ruanda und die ich so ein bisschen in die Bischofsfamilie aufgenommen habe, die ist für mich eine wirklich ganz große Gestalt. Eine sehr einfache Frau, die hier jetzt mit 75 lebt, nicht Deutsch kann, aber zu der kann ich aufschauen.

 

BS: Das heißt, die Hoffnungsträger der Kirche sind nicht unbedingt die Würdenträger?

 

KS: Gott sei Dank ist das so. Die Hoffnungsträger sind die Heiligen, das heißt die Menschen, in denen das Christentum nicht eine Theorie ist, sondern ein Leben. Ich habe vor ein paar Tagen das Requiem für Pater Hartmann Thaler gehalten. Ich habe selten erlebt, dass eine Kirche so voll ist, dass soviel Trauer über den Tod eines 93-jährigen Priesters herrscht. Von den Kindern, den Ministranten, die geweint haben bis zu den Alten. Und ich hab dann gesagt, "was war das Besondere am Pater Thaler?": Er hat Gott gegenwärtig gemacht. Das ist das Schönste, was ein Mensch machen kann. Dass in seiner Gegenwart die ganze Lebendigkeit und Nähe und Liebe Gottes gegenwärtig wird, dass das greifbar wird.

Auch ein Zeichen des Widerspruchs
 

BS: Sie haben vorher gesagt, die Glaubenskrise macht Ihnen mehr Sorgen als die Vertrauenskrise. Dennoch, welche Anstrengungen sind notwendig, um auch das Vertrauen wieder zurück zu gewinnen?

 

KS: Keine großen PR-Aktionen. Die überzeugen nicht. Aber Menschengestalten, die das Evangelium sichtbar machen, ja das schafft Vertrauen, schafft aber auch Widerspruch, das darf man nicht vergessen. Alle großen christlichen Gestalten waren auch Zeichen des Widerspruchs. Ich denke etwa an eine Maria Loley (die Flüchtlingshelferin, Anm. der Redaktion), die ich wirklich sehr hoch achte und verehre. Sie ist auch ein Zeichen des Widerspruchs mit ihrem bedingungslosen Einsatz für Menschen in Not, für Flüchtlinge. Das hat ihr ein Briefbombenattentat eingebracht, viele Morddrohungen. Zustimmung ist nicht das einzige Kriterium für echtes Christentum.

 

BS: Widerspruch ist es in gleichem Maße?

 

KS: Widerspruch ist oft der treue Begleiter eines gelebten Christentums.

 

BS: Und Zweifel …?

 

KS: Und Zweifel, hoffentlich positive Zweifel, dass man sich in Frage stellt gegenüber Selbstverständlichkeiten, die einfach hingenommen werden und die das Evangelium kritisieren.

BS: Sie haben in Ihrer Bußpredigt im März dieses Jahres auch über das Gefühl der Ungerechtigkeit gesprochen. An die Kirche würden ja strengere Maßstäbe angelegt  als an viele staatliche und private Organisationen, in denen auch Missbrauch stattgefunden hat.  Ist das ungerecht oder berechtigt?

 

KS: Berechtigt. Denn wer die Latte hoch legt, darf sich nicht wundern, dass alle schauen, ob der Hochsprung gelingt. Und nun hat Christus die Latte hoch gelegt. Und das Hinzeigen auf die Christen, "schaut das vertretet ihr, aber was lebt ihr?", das ist ein uraltes Thema. Man darf auch kritisch zurückfragen: "Machst du’s dir ein bisschen bequem, wenn du sagst, die Christen schaffen's ja auch nicht, also muss ich mich ja auch nicht anstrengen". Das wäre ein bisschen zu bequem. Denn die Frage ist ja nicht, schaffe ich den Hochsprung über die hoch gelegte Latte, sondern ist es sinnvoll, dass die Latte hoch liegt. Und wir wissen, dass es gut ist, uns selber auch die Latte nicht zu niedrig zu legen, damit wir uns selber überwinden.

 

BS: Also wenn Sie mir heute in diesem Interview sagen, dass die Kirche nicht das Monopol auf Moral hat, versuchen Sie die Latte ein bisschen niedriger zu legen?

 

KS: Nein, ich möchte wegkommen von einem Bild, das seit dem Josephinismus Österreich prägt, dass die Kirche primär eine moralische Anstalt sei. Papst Benedikt XVI. kämpft unermüdlich gegen dieses Bild. Er sagt: "Das Christentum ist nicht zuerst eine Moral, sondern eine Freundschaft". Es ist eine Freundschaft, eine Beziehung, eine Gemeinschaft, die natürlich auch ein hohes Ethos hat. Aber im Vordergrund steht nicht die Moral und der erhobene Zeigefinger, sondern die Verheißung. Ja, die Verheißung  eines wirklich möglichen Glücks.

 

BS: Wie kann die Kirche Ihre Position auf dem Markt der Lebenshilfe-Anbieter schärfen? Das ist ja auch ein großer und sehr umkämpfter Markt geworden. Welche Rolle spielt da die Kirche und welches Profil hat sie?

 

KS: Ich denke, es ist gut, dass es viele Angebote gibt, weil es viel Not gibt. Es ist zweitens notwendig, Unterscheidungskriterien zu haben. Was ist Talmi und was ist echte Hilfe. Was ist wirklich Lebenshilfe? Und ich glaube schon, dass eine gläubige Sicht des Lebens hier helfen kann, zu unterscheiden. Vor allem braucht es ein gewisses Gespür. Ist das jetzt Geschäftemacherei oder geht es um ein echtes Mitleiden, Mitgehen und ist da dahinter ein Menschenbild, zu dem ich stehen kann. Es gibt ja viele Denkschulen, die ein rein materialistisches Menschenbild haben oder den Menschen nur als ein Reaktionsbündel sehen. Das kann nicht wirklich unser Weg sein.

 

BS: Ja, aber geht einem dieses Gespür nicht gerade in einer Krise verloren? Also, wenn ich grad ganz unten bin, dann stellen sich die Menschen die Frage: Geh ich zum Psychotherapeuten, zum Astrologen, zum Lebensberater oder zum Pfarrer? Warum zum Pfarrer?

 

KS: Ich wünsche mir, dass wir endlich dahin kommen, dass es nicht primär auf den Pfarrer ankommt, sondern auf die Begegnung mit Christen, mit Menschen, die aus dem Glauben heraus ein Verständnis entwickelt haben. Das kann auch ein Pfarrer sein, das kann aber auch ein Nachbar, eine Nachbarin sein, von dem oder der ich merke, das sind Menschen mit einer inneren Festigkeit, einer inneren Klarheit, denen kann ich vertrauen. Das ist die Zukunft: Christen, die einfach meine Nachbarn sind und an deren Leben ich sehen kann, ja, da kann ich mir Hilfe erwarten.

 

BS: Oder ich gehe einfach in eine Kirche und setz mich in eine Bank. Reicht die Kraft einer Kirche, die Atmosphäre, die Ruhe, die Kraft schon oft aus?

 

KS: Die Kraft eines Gebäudes alleine ist es nicht, aber der  "Bewohner" des Gebäudes gibt dem Gotteshaus die Kraft, die dann wirkt.

 

BS: Die Titelgeschichte dieser Publikation wird ja auch sein "Stadt der Kirchen". Wenn man sich umschaut, dann stammen die großen Gotteshäuser fast alle aus früheren Jahrhunderten. Wo sind die heutigen Zeugen eines selbstbewussten und kraftstrotzenden Christentums?

 

KS: Ich erinnere mich, in New York war ich bei einer Feier für Kardinal O’Connor. Es war ein großer Empfang für ihn. Und dann hat er auf eine Schwesterngemeinschaft hingewiesen, die heißen "Sisters for Life", die sich vor allem um arme Frauen, Frauen in schwierigen Situationen in New York, in der Bronx und anderswo kümmern. Kardinal O’Connor hat gesagt, "frühere Genrationen haben Kathedralen gebaut, das ist meine Kathedrale". Und ich denke, das trifft für heute zu. Natürlich werden auch heute Kathedralen gebaut, zum Beispiel in Afrika. Und es ist ja auch richtig, dass es auch einen architektonischen Ausdruck für den Glauben gibt. Aber die wirklichen Kathedralen heute sind, meine ich, die lebendigen Zeugen gelebten Christentums.

 

BS: …die aber vergänglich sind.

 

KS: (lacht) Auch Gebäude sind vergänglich. Die Kirche weiß, dass alles auf dieser Welt vergänglich ist. Auch die schönste Kathedrale!

 

BS: Oft genug war die Kirche sowohl als Gebäude, aber auch als Institution ein Bollwerk in den vielen Kriegen und Auseinandersetzungen. Was tut sie, um in den neuen Gesellschaftskonflikten ihre Aufgabe – ein Hort der Sicherheit zu sein, Hoffnung zu sein – gerecht zu werden?

 

KS: Unermüdlich sich bemühen, das Richtige zu tun. Ich denke an unsere Caritas, deren Aufgaben fast täglich wachsen. In dem Maß, wie der Sozialstaat Leistungen zurücknimmt, wird es notwendiger, subsidiär Hilfe zu geben. Und es landet heute schon vieles bei der Caritas, was früher selbstverständlich beim Staat angesiedelt war. Das ist auch ein Grund zur Sorge, aber es ist auch ein Zeichen dafür, dass die Kirche in diesem Fall wirklich ein Bollwerk für die Armen ist. Sie war im 20. Jahrhundert das große Bollwerk gegen die Ideologien, Kommunismus und Nationalsozialismus, die sind weg. Die Kirche lebt, sie bleibt, sie war in der Auseinandersetzung mit den Ideologien wirklich das Bollwerk der Freiheit und der Menschenwürde.

 

Schutzwall für die, die keine Stimme haben

BS: Das heißt, heute ist sie das Bollwerk gegen Armut … gegen soziale Probleme?

 

KS: Sie ist sicher ein ganz wichtiger Schutzwall für die, die keine Stimme haben. Ich denke hier an die Flüchtlingsaktivitäten der Kirche, die sicher sehr, sehr vorbildlich sind. Natürlich geht – das muss man auch ehrlicherweise sagen – die Hilfe der Caritas nur in Zusammenarbeit mit dem Staat. Als Unterstützung dessen, was der Staat alleine nicht leisten kann. Und darum darf man das auch nicht gegeneinander ausspielen.

 

BS: Kann das der Staat nicht leisten oder will er’s nicht leisten? Sie haben vorher gesagt, dass die Sozialleistungen zurückgefahren werden müssen. Warum?

 

KS: Das ist das Plädoyer oder sagen wir die Forderung, die die Caritas immer wieder zu Recht erhebt: Wenn gespart werden muss und das ist zweifellos so, weil man ja das Budget sanieren muss, dann bitte nicht auf dem Rücken derer, bei denen eh schon am meisten gespart wird oder die am meisten sparen müssen. Man darf nicht bei denen als erstes den Rotstift ansetzen.

 

BS: Genau das passiert aber in manchen Bereichen!

 

KS: Es passiert zum Teil. Aber ich denke doch, mit der Mindestsicherung ist schon ein Schritt in die richtige Richtung getan worden. Das muss man wirklich anerkennen. Das wird noch eine Zeit brauchen, bis sich das einspielt und zweifellos ist es berechtigt, hier auch gegen Missbrauch Schutzzäune zu errichten. Aber grundsätzlich ist der Schritt zur Mindestsicherung ein guter und er ist immerhin von der Koalition gemeinsam beschlossen worden. Das ist ein gutes Zeichen.

BS: Wie kann man die Kirche wieder zu einem Ort der Begegnung für Generationen, Völker, für alle machen?

 

KS: Also, die Kirche in Wien ist zweifellos ein solcher Ort, denn wir haben eine solche Völkervielfalt in der Kirche in Wien. Es ist noch nicht allen Wiener Katholiken bewusst, wie sehr sie inzwischen Weltkirche geworden sind. Ich denke an die vielen anderssprachigen katholischen Gemeinden, die wir in Wien haben, angefangen von denen aus Japan, Vietnam, Philippinen (eine riesige Gemeinde!), Indien, Indonesien, Lateinamerika, Afrika. Und die Anderssprachigen aus Europa: Die Polen, die Kroaten, die Albaner usw. Wien ist wirklich ein Spiegel der Weltkirche und mein Bemühen ist es, dass den angestammten Wiener Katholiken, die ja oft selber in früheren Generationen einen Migrationshintergrund hatten (wie ich selber),  bewusst wird, wie sehr die Kirche Wiens ihre Lebendigkeit auch aus diesen der vielen Gemeinden aus aller Welt bezieht.

 

BS: Welche Signale gibt’s an Andersgläubige?

 

KS: Die erste und größte Gruppe, an die es Signale gibt, sind die Orthodoxen, die mit 500.000 Gläubige in Österreich die zweitgrößte Religionsgemeinschaft sind: Orthodoxe aus Serbien, Rumänien, Russland, Griechenland, aus dem Nahen Osten, zum Beispiel aus Ägypten, die Kopten sind sehr zahlreich bei uns. Alle orthodoxen und altorientalischen Christen zusammen bilden in Österreich wie gesagt die zweitgrößte Religionsgemeinschaft nach den Katholiken und noch vor den Muslimen. Es ist nicht immer bewusst, dass die Zahl der orthodoxen Christen größer ist als die Zahl der Muslime. Ich denke, dass das auch für die Zukunft in Österreich ganz wichtig ist. Und da war Kardinal Franz König sehr weitsichtig mit der Gründung der Stiftung "Pro Oriente", um hier die Brücke zu den Orthodoxen zu schlagen. Und wir versuchen in Wien sehr intensiv, mit den anderen christlichen Kirchen zusammen zu arbeiten, zusammen zu leben.

Und dann gibt es natürlich das große Thema des Islam, das manchmal etwas übertrieben groß gesehen wird. Sie sind eine starke, auch zuwachsstarke Minderheit; ich denke, die weltweite Auseinandersetzung um den Islam lenkt die Aufmerksamkeit sehr stark auf sie. Aber wir sollten nicht vergessen, dass Katholiken, Orthodoxe und Evangelische zusammen in Österreich die bei weitem größte Religionsgruppe darstellen, nämlich weit über zwei Drittel. Alle Christen zusammen machen mehr als 80 Prozent der österreichischen Bevölkerung aus. Deshalb plädiere ich sehr dafür, dass wir eine angstfreie Begegnung mit dem Islam pflegen, der selber in sich sehr vielgestaltig ist: Sunniten, Schiiten, Aleviten usw. aus ganz unterschiedlichen Herkunftsländern. Ich glaube, wir können dem Islam mit einer nüchternen Offenheit begegnen und vor allem die Menschen in ihrer Würde und ihrem Glauben achten und wertschätzen.

 

Besinnung auf die Wurzel

BS: Die Kirchen sind nicht nur die Botschafter von Kunst und Kultur im öffentlichen Raum, sondern liefern auch das gesamte Bildmaterial unserer Sitten- und Moralgeschichte. Wir denken nun einmal in Europa fast alle christlich – ein Fundament, auf dem sich ja gut aufbauen lässt. Was sind jetzt die Aufgaben der Kirche, um ihre Bedeutung nicht zu verlieren?

 

KS: Wie es immer in der Geschichte war, das, was dem Christentum positiv prägende Kraft gegeben hat, war die Besinnung auf die eigenen Wurzeln. Das heißt auf das Evangelium. Und dort, wo das geschieht, dort bringt das Christentum auch ein positives Ferment in die Gesellschaft ein. Ob die Christen jetzt die Mehrheit sind oder nicht, es prägt einfach, wenn es Menschen gibt, die wirklich aus dem Geist des Evangeliums leben. Und das erhoffe ich mir, dass das auch für  Europa zutrifft - trotz aller Klagen über den Verlust des Christlichen.

 

BS: Aber verstehen die Menschen heute das Evangelium, kommt es an, kann es die Kirche kommunizieren?

 

KS: Da müssen wir die Frage stellen, ist das Evangelium jemals angekommen? Ist es bei den Christen angekommen? Musste Jesus nicht am Schluss sagen, zu seinen eigenen Aposteln, "warum versteht ihr das noch immer nicht"? Offensichtlich ist die Evangelisierung, das Durchdringen des Lebens mit dem Evangelium, ein dauernder Prozess. Und der muss in jeder Generation neu angegangen werden. Das spannende ist heute, dass wir uns nicht einfach darauf verlassen können, dass die Tradition das automatisch weiter liefert. Manche Eltern, die versucht haben, ihren Kindern den christlichen Glauben weiter zu geben, stehen etwas verdutzt da und stellen fest, irgendwie scheint das nicht gelungen zu sein. Europaweit stellen stehen wir vor der Frage: Ist die Weitergabe des Evangeliums gelungen? Aber auf der anderen Seite müssen wir sagen: Jede Generation muss das Evangelium auch erst neu entdecken - damit es wirklich in Fleisch und Blut übergeht, dass ich das nicht nur im Kopf hab, sondern in meinen spontanen Reaktionen. Wie reagiere ich zum Beispiel auf Fremdenhass? Wie reagiere ich vom Evangelium her darauf? Habe ich das Evangelium wirklich in den "Innereien", hab ich es verinnerlicht? Prägt es auch mein spontanes Verhalten wirklich?

 

BS: Aber für die Verkündigung braucht es ja immer die Sprache. Und spricht die Kirche heute noch die Sprache, die die Menschen verstehen?

 

KS: "Die Kirche" spricht nicht. Es sprechen Menschen. Und manche treffen es sehr gut, andere treffen es weniger. Entscheidend ist, dass die, die davon sprechen, selber Betroffene sind. Man muss spüren, wenn jemand darüber spricht, dass er selber ein Angesprochener ist und zuerst ein Hörender, dann kann das Evangelium, wenn er es in den Mund nimmt, auch glaubwürdig rüber kommen.

 

BS: Warum lohnt es sich, dabei zu sein?

 

KS: Ich habe keinen Meister gefunden, der mir auch nur annähernd das geben kann, was ich bei unserem Herrn und Meister, bei Jesus Christus, gefunden habe. Und in den 65 Jahren meines Lebens habe ich ihn wahrscheinlich oft enttäuscht, aber er hat mich nie enttäuscht.

 

BS: Ich kann mich erinnern an unser Interview-Buch, da war einer Ihrer Sätze, der mich am meisten begleitet hat "Nur die Wahrheit macht frei". Gilt das immer noch und gerade nach dem letzten Jahr?

 

KS: Es gilt ganz entschieden! Es ist etwas manchmal Schmerzliches, aber immer Befreiendes und dadurch auch Beglückendes, in der Wahrheit zu sein. Wir sind einfach nicht für die Lüge geschaffen. Der menschliche Geist, das menschliche Herz braucht die frische Luft der Wahrheit.

 

BS: Wissen viele Christen gar nicht, dass sie gute Christen sind?

 

KS: Ich glaube viele Menschen wissen das gar nicht, wie viel nahe sie dem Reich Gottes sind. Jesus hat das ja oft und oft gesagt und seinen Jüngern gezeigt - Menschen, die keine Ahnung davon hatten, wie groß Gott sie achtet, wie groß sie in seinen Augen sind. Die wirklich ganz Großen wissen wahrscheinlich gar nicht, dass sie es sind.

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