Der Psalm 119 ist der längste aller Psalmen, das Gebet ist eine Meditation auf die im Gesetz vermittelte Offenbarung des Wortes Gottes. Das Gesetz, die Tora, nicht als Last, sondern als Weisung zum Leben zu verstehen, war für christliche Ausleger nicht immer selbstverständlich. Oft begegnete man dem Gesetzespsalm mit Unverständnis und antijüdischen Vorurteilen und bezeichnet ihn als gekünstelt. Neuere Bibelauslegung sieht in dem alttestamentlichen Text mit seinen 22 Strophen von je acht Doppelzeilen - jede Strophe beginnt mit einem der 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets - einen "echten Mediationspsalm" (Erich Zenger), der durch seine Länge innere Ruhe und Öffnung des Herzens für die Begegnung mit Gott ermöglicht.
Auch der große evangelische Kirchenmusiker Heinrich Schütz (+1585) hatte keine Vorurteile gegenüber dem Gesetzespsalm 119, vielmehr komponierte er mit der Vertonung jedes einzelnen seiner 176 Verse eine Art Miniatur-Liebeserklärung an die Weisung Gottes. Zusammen mit Psalm 100 und dem Magnifikat (Lobgesang Mariens) wurde das Werk zum Vermächtnis, dem "opus ultimum" seines Lebens.
"Schütz ist der letzte große Vokalkomponist, er denkt seine Linien ganz und gar vokal", erklärt der Kirchenmusiker Xaver Kainzbauer vom Mozarteum Salzburg und Chorleiter der Schottenpfarre: "Sein 'opus ultimum' ist der Versuch zu zeigen, wie er komponiert."
Wesentlich dabei sei die Zahlensymbolik, die auch das Alte Testament kennt. Die Zahlen, die Intervalle und die Melodie "deuten den Text auf einer Meta-Ebene, das ist das Wesen dieser Kompositionstechnik", so Kainzbauer.
Grundaussage des Werkes von Heinrich Schütz sei immer die Botschaft: Ich ruhe in Gott und Gott trägt mich, sagt Xaver Kainzbauer. Im langen Psalm 119 - den noch nie vorher jemand vertont hat - verarbeitete Schütz auch sein persönliches Lebensmotto, es ist der Vers 54: Deine Rechte sind mein Lied in meinem Hause. Gottes Gebote, sein Weg - und auf ihm zu gehen -, das ist "das Lied in meinem Haus", erklärt Kainzbauer und fügt hinzu: "Übrigens, das Singen zuhause ist bei Schütz ganz wichtig gewesen."
Ein Lobgesang auf das Gesetz Gottes:
Heinrich Schütz, Ps 119 "opus ultimum"
Konzert mit Einführungsvortrag von Xaver Kainzbauer
Mittwoch, 6. Oktober 2010, 18.00 - 21.00 Uhr
1010 Wien, Wollzeile 2, Festsaal des Erzbischöflichen Palais.
Eine Veranstaltung der Theologischen Kurse.
Eintritt: 12,- Euro; unbedingt anmelden unter 01/51552-3708 oder wienerkurs@theologischekurse.at
Eine musikalisch-theologische Einführung in das "opus ultimum" von Heinrich Schütz bringt Radio Stephansdom am Dienstag, 5. Oktober 2010. Der Kirchenmusiker und Dozent des Salzburger Mozarteums, Xaver Kainzbauer, erklärt die Feinheiten des Werkes: "Ich würde sagen, dass es sich auszahlt, sich damit auszukennen - gerade weil Barockmusik wieder im Kommen ist, und weil das Hörvergnügen ein vielfaches ist." Eine Sendung von Stefanie Jeller.