Gibt es einen freien Willen? Wenn es keinen geben sollte, welche Rolle spielt dann noch das Gewissen? Univ.-Prof. Eberhard Schockenhoff (im März bei den Theologischen Kursen) im Gespräch.
Wie frei ist der Mensch?
Schockenhoff: Da der Mensch ein endliches Wesen ist, bewegt er sich auch innerhalb seiner freien Entscheidungen in Grenzen, die ihm von seiner Natur her gezogen sind. Die Alternative lautet daher nicht, ob der Mensch schlechthin frei oder restlos determiniert ist. Vielmehr besitzt jeder Mensch einen unterschiedlich großen Spielraum seiner Freiheit, den zu erhalten und zu vergrößern seine lebensgeschichtliche Aufgabe ist. Tatsächlich besteht die Freiheit in der Fähigkeit des Menschen, das Wechselspiel der verschiedenen Einflussfaktoren, die auf ihn einwirken, zu erkennen und sich zu ihm zu verhalten. Freiheit in diesem Sinn ist keine absolute Größe, sondern ein lebensgeschichtlicher Prozess. Wir stellen unsere Freiheit unter Beweis, indem wir sie in Anspruch nehmen und die Mühen einer bewussten Lebensführung nicht scheuen.
Die Neurowissenschaften bestreiten – vereinfacht gesagt – den freien Willen: Ist der Mensch mehr als die Summe von biochemischen Prozessen?
Schockenhoff: Einige Vertreter der Neurowissenschaften versuchen, die methodisch gesicherten empirischen Erkenntnisse ihres Faches zu einer weltanschaulichen Globaltheorie über den Menschen zu erweitern, in deren Zentrum dann die Leugnung der Willensfreiheit steht. Die Frage ist jedoch, wie man die Gehirnprozesse interpretiert, die eine unabdingbare Voraussetzung unseres subjektiven Erlebens, unserer Bewusstseinsakte und unserer freien Willensentscheidungen sind.
Die methodische Einseitigkeit mancher Vertreter der Neurowissenschaften hatte vor vielen Jahrzehnten bereits Max Planck kritisiert, der dagegen postulierte, die Erste-Person-Perspektive und damit die eigenständige Wirklichkeit des Geistes anzuerkennen und die objektive Beschreibungssprache der Naturwissenschaft methodisch zu begrenzen.
Wie kann das Gewissen zu einem Kompass auf dem Weg eines guten Lebens werden?
Schockenhoff: Welche Rolle das Gewissen in unserem Leben spielt, hängt davon ab, welche Aufmerksamkeit wir ihm in den Fragen der täglichen Lebensführung schenken. Wir machen alle die Erfahrung, dass wir die lästigen Einreden des Gewissens zum Schweigen bringen können. Man kann das Gewissen zwar nicht einfach abstellen wie einen CD-Player, aber man kann sich daran gewöhnen, seine Mahnungen und Aufforderungen zu überhören.
Auch ein notorisch gutes Gewissen kann wie ein Tranquilizer wirken, da es uns in den wichtigen Weichenstellungen des Lebens nicht fordert, sondern falsche Entwarnung gibt. Tatsächlich ist das Gewissen für jeden Menschen etwas Kostbares: Es macht mich einmalig, indem es mich fordert.
Die wichtigste Aufgabe des Gewissens ist es, mir zu zeigen, wem ich auf dem Weg der Liebe zum Nächsten werden kann, der hier und jetzt meiner Hilfe bedarf. Es lässt mich erkennen, was ich tun kann und tun soll – nicht weil alle so handeln müssten, um einer moralischen Verpflichtung zu entsprechen, sondern weil ich dazu in der Lage bin. Wenn das Gewissen Ausnahmen fordert, dann zuerst Ausnahmen zugunsten der anderen und nicht in eigener Sache.
Interview: Stefan Kronthaler