Warum eine gute Balance zwischen Arbeit und Muße so wichtig ist, welchen Wert der freie Sonntag hat und warum auch in der freien Zeit weniger oft mehr ist. Ein Gespräch mit der Psychotherapeutin Brigitte Ettl.
Warum ist Freizeit so wichtig? Was, flapsig formuliert, bringt Freizeit, was das Berufsleben nicht bringen kann?
Ettl: Kein Lebensbereich kann alle Bedürfnisse abdecken. Im Berufsleben müssen sich die meisten Menschen vorgegebenen Bedingungen anpassen: Arbeitszeit, Projektziele, Teams und Vorgesetzten. Freizeit bietet Raum für Selbstbestimmung. Hier kann ich entscheiden, wie und mit wem ich meine Zeit verbringen möchte. Es ist auch ein Zeitraum, in dem ich mir einen Ausgleich verschaffen kann – zum Sitzen durch Bewegung, zu strikten Abläufen durch Kreativität, zu einer Kontaktfülle durch Stille und Ruhe.
Immer wieder diskutiert wird über den freien Sonntag, über dessen Beibehaltung oder Abschaffung. Vor allem kirchliche Kreise setzen sich sehr für die Beibehaltung dieses „europäischen Kulturgutes“ ein. Welchen Wert hat ein gemeinsamer freier Tag in der Woche – für mich persönlich, aber auch für die Gesellschaft?
Ettl: Aus meiner Erfahrung brauchen Menschen einen Rhythmus, eine gewisse Regelmäßigkeit, um gut mit ihren Kräften haushalten zu können. Der Sonntag ist seit Jahrhunderten für einen Großteil der Bevölkerung der Tag, an dem die Erwerbsarbeit ruht. Statt dessen ist Zeit für eigene Interessen, für Familie und Freunde. Für mich hat er auf der persönlichen Ebene drei Funktionen: Innehalten und den Augenblick genießen, einen wertschätzenden Blick auf die vergangene Woche werfen, um sich die eigenen Leistungen noch einmal bewusst zu machen – und auch der planende Blick auf die kommenden Tage gehört dazu. Für die Gesellschaft ermöglicht der freie Sonntag das Erleben von Gemeinschaft außerhalb der Arbeitswelt – da (fast ) alle frei haben, besteht die Möglichkeit zu gemeinsamen Unternehmungen. Der freie Sonntag ermöglicht Begegnung, schenkt Zeit für Gespräche ohne Zeitdruck.
Viele jammern aber auch immer wieder über den „Freizeitstress“. Gibt es ein Rezept, wie man freie Zeit richtig – also so, dass man auch etwas davon hat – nutzt?
Ettl: Da muss wohl jeder seinen eigenen Weg finden – meist ist weniger viel mehr. Wenn ich auch am Sonntag noch von Termin zu Termin hetze, nehme ich mir die Möglichkeit, den Augenblick zu verkosten – denn in Gedanken bin ich ja schon am Weg zum nächsten Ziel.
Es braucht also auch in der Freizeit die Fähigkeit Nein sagen zu können – und in einer Woche ist ja wieder ein Sonntag.
Manchmal habe ich den Eindruck, dass Menschen vor lauter Stress und Hektik verlernt haben, Ruhe und Stille auszuhalten. Vielleicht kann es schon gut tun, am Sonntag zumindest für einige Stunden auf Handy und internet zu verzichten. So fällt es einem wieder leichter, auf die innere Stimme zu hören.
Manche meinen, sich angesichts hoher beruflicher Anforderungen Freizeit nicht gönnen zu können oder zu dürfen, es fällt ihnen schwer, nach einem hektischen Tag zur Ruhe zu kommen. Kann man es lernen, sich freie Zeiten zu nehmen? Und wenn ja: Wie macht man das?
Ettl: Wer es nicht lernt, eine gute Balance zwischen Arbeit und Muße zu finden, landet wahrscheinlich in einer absoluten körperlichen und seelischen Erschöpfung. Wichtig ist daher, dass Arbeit – auch wenn sie noch so faszinierend ist – nicht zum einzigen Wert in meinem Leben wird. Wenn ich noch andere attraktive, anziehende Ziele habe - Familie, Freunde, Hobbys,.. fällt es mir leichter, auch unter der Woche „Feierabend“ zu machen.
Gibt es auch ein Zuviel an Freizeit?
Ettl: Damit Freizeit wertvoll ist, braucht sie Grenzen. Besonders spürbar ist dies für Menschen, die arbeitslos sind oder mit der Pensionierung hadern. Neben vielen anderen Aspekten, die hier noch eine Rolle spielen, fallen viele durch das Überangebot an Zeit in eine Lethargie – es ist ja für alles sinnvolle Tun morgen oder übermorgen auch noch Zeit. Und dann fällt es immer schwerer, sich dazu aufzuraffen. Ehrenamtliche Tätigkeiten oder Ausbildungen können in solchen Fällen die Freizeit sinnvoll begrenzen.
Interview: Andrea Harringer