„Franz Liszt. Visionär und Virtuose“ (Jan Jiracek von Arnim), „Franz Liszt. Biographie eines Superstars“ (Oliver Hilmes) titeln zwei der jüngsten Liszt-Biographien, erschienen im Gedenkjahr 2011 (200. Geburtstag am 22. Oktober, 125. Todestag am 31. Juli).
Als Virtuose und Superstar hatte auch ich ihn zu kennen gemeint, als „romantischen Dämon des Klaviers“ (Karl Schumann) und Frauenschwarm, als Verursacher der Massenhysterie „Lisztomanie“ (Heinrich Heine), als Schöpfer grandioser Symphonischer Dichtungen und effektvoller Ungarischer Rhapsodien, als eleganten Abbé und Salonlöwen, als eine schillernde Erscheinung, die ihre „Rollen, Kostüme, Verwandlungen“ (Sigfried Schibli) ständig wechselte.
Eine der glücklichen Fügungen, die man manchmal auch in der (musik)wissenschaftlichen Arbeit erlebt, hatte mich zur Begegnung mit der Enkelin von Liszts letztem Sekretär, Schüler, Vertrauten, Reisebegleiter und späteren Biographen August Göllerich (der sich auch um die Biographie Anton Bruckners verdient machte) geführt.
Sie besaß ein ansehnliches Konvolut an Briefen, die Göllerich an seine Mutter und seine Schwester sandte. Durch diese Briefe und eine immer größere Anzahl von in der Folge herangezogenen Dokumenten aus Archiven und Sammlungen (so etwa zahlreiche Briefe anderer Liszt-Schüler und die nur zum Teil publizierten Tagebücher Göllerichs) gewann ich einen ganz neuen, nahen, authentischen Blick besonders auf den alten Meister, auf sein hohes künstlerisches Ethos ebenso wie auf die nahezu unglaubliche Großmut und Güte, die seinen Umgang nicht nur mit den (von ihm unentgeltlich unterrichteten!) Schülern, sondern mit allen Menschen seiner Umgebung, besonders den vom Schicksal Gezeichneten, prägte. So war etwa einer seiner Diener – sein einziger Luxus, bekannte er einmal, sei sein „Butler“ – ein ehemaliger Häftling, dem Liszt auf diese Weise einen Neustart ermöglichte.
Die Erinnerungen der Liszt-Schüler waren plötzlich nicht mehr verklärende, romantisierende Huldigungen, sondern wahrhaftige Schilderungen eines ganz großen Menschen und Künstlers.
So schreibt etwa Graf Géza Zichy über den späten Liszt: „Wenn wahre Herzensbildung den Gehalt, den Kern der Heiligkeit bildet, so war Franz Liszt ein Heiliger. Ein weltlicher liebenswürdiger Heiliger. Opferfähig, immer zu helfen bereit, ohne Rachsucht, jede Unbill vergessend, einer der alleredelsten und menschlichsten Menschen, die je auf Erden gewandelt sind. Strenggläubig und tolerant und nicht zu jenen Katholiken gehörend, die zuweilen so wenig christlich sein können. Sein Edelmut, seine Herzensgüte waren noch größer als sein Genie ...“
Liszts Religiosität war keineswegs, so wie man ihm häufig unterstellte, eine weitere, zusätzliche Pose. Schon von Kindheit an hatten gleichsam zwei „Schienen“ sein Leben bestimmt: die Kunst und die Religion. Dass Liszt am 30. Juli 1865 die „Niederen Weihen“ empfing (was ihn in den Klerikerstand eingliederte und ihn zum Tragen der Soutane und zum täglichen Besuch der Messe verpflichtete), war nicht eine Handlung der Resignation nach dem Scheitern seiner Ehepläne mit Carolyne Sayn-Wittgenstein (1861), sondern eine konsequente Verfolgung bzw. Wiederaufnahme seiner ursprünglichen Neigung zur Religion.
In der Öffentlichkeit freilich wurde dieser Schritt verständnislos bis spöttisch kommentiert. So vermutete man, Liszt wolle sich dadurch Erfolg als Kirchenmusiker verschaffen. Doch der Meister schrieb in zunehmendem Maße nicht die prunkvoll-repräsentativen Werke, die man von ihm erwartete, im Gegenteil: In asketischer Reduktion standen seine späten Kompositionen dem Zeitgeschmack diametral entgegen.
Für die „Via crucis“ (1879, uraufgeführt erst 1929 in Budapest) fand sich nicht einmal ein Verleger, so wenig erfüllte es in seiner meditativen Verinnerlichung und seiner geradezu monastischen Kargheit die Erwartungen der Öffentlichkeit. Ein sprödes Werk, zugegeben, aber eines, das dem Entwickeln eigener Gedanken und Emotionen Raum gibt, das aus der Stille kommt und in die Stille führt.
Ganz anders, gleichsam wie eine Reminiszenz an den gefeierten Virtuosen, klingen die „Wasserspiele der Villa d’Este“ aus dem dritten Band des Klavierzyklus „Années de Pèlerinage“, entstanden ebenfalls in später Zeit (1877), eines der wohl bekanntesten und brillantesten Klavierstücke des Meisters. Es ist von erfrischender Leichtigkeit und Schönheit, meisterhaft fängt Liszt die Lichtbrechungen der herabstürzenden Kaskaden ein. Ein bezauberndes Bild? Ja, aber eines mit tiefer Bedeutung: die perlenden Fontänen beziehen sich nach Liszts Vorstellung auf die „Ströme lebendigen Wassers“ (vgl. Joh 7, 38). Meisterhaft sind Natureindrücke eingefangen in der Komposition für Orgel Saint François d’Assise, in dem Liszt die Vogelstimmenimitationen und das flirrende Licht Oliver Messiaens vorweggenommen hat.
Dies sind nur einige wenige Beispiele aus „meinen“ persönlichen Liszt-Vorlieben. Oh ja, für uns ist noch viel zu entdecken an den Werken Liszts. Erstaunlicherweise ist dem „Boom“ der Klavierwerke Liszts zu seinen Lebzeiten fast eine Vernachlässigung im Konzertbetrieb gefolgt, von einigen wenigen Ausnahmen (Alfred Brendel) abgesehen; auch die großen Symphonischen Dichtungen werden selten aufgeführt.
Nach einer aktuellen Statistik werden nur ca. 5 Prozent der Lisztschen Werke insgesamt gespielt. Das Jubiläumsjahr 2011 hat auch noch nicht das zum Arbeiten längst notwendige Werkverzeichnis (hier sehr hilfreich: die spannend und seriös zugleich geschriebene neue Biographie Michael Stegemanns, Franz Liszt. Genie im Abseits mit einem Werkverzeichnis im Anhang) oder eine komplette Briefausgabe gebracht.
Es gibt also noch viel zu arbeiten, aufzuführen, anzuhören. Liszt entdecken – ja, auch nach dem Jubiläumsjahr, denn es lohnt sich!
Elisabeth Maier