Leonardo habe für sein Abendmahl nicht die Einsetzung der Eucharistie gewählt, sondern den Moment des Verrates als die Grenzlinie, an der Jesus zu Christus wird.
Leonardo habe für sein Abendmahl nicht die Einsetzung der Eucharistie gewählt, sondern den Moment des Verrates als die Grenzlinie, an der Jesus zu Christus wird.
Wer war Leonardo da Vinci und warum ist er so wichtig für unsere Zeit? Klaus-Rüdiger Mai hat eine umfangreiche Biografie des Universalgenies verfasst und erläutert darin wichtige Sakralwerke wie das „Abendmahl“.
Er gilt als Urbild des Universalgenies der Renaissance, als phänomenaler Künstler und vielseitiger Pionier der Naturforschung: Am 2. Mai dieses Jahres jährt sich der Todestag von Leonardo da Vinci zum 500. Mal.
„Er war eine Ausnahmeerscheinung in einer Zeit voller Ausnahmeerscheinungen“, schildert da-Vinci-Biograf Klaus-Rüdiger Mai und fügt an: „Leonardos Leben bleibt geheimnisvoll wie das Lächeln der Mona Lisa“.
Dennoch hat Historiker Mai ein über 400 Seiten starkes Buch über Leonardo da Vinci verfasst und schildert darin detailliert Leben und Werk des Renaissance-Riesen. Leonardo schuf Gemälde, die heute zu den wichtigsten Ikonen der christlichen Kunst zählen, als Höhepunkt seines Schaffens gilt das „Abendmahl“, Wandgemälde für das Refektorium des Klosters Santa Maria delle Grazie in Mailand (1494-1497).
Bartholomäus, Jakobusder Jüngere und Andreas; Judas, Petrus und Johannes; Jesus; Thomas, Jakobus der Ältere und Philippus; Matthäus, Thaddäus und Simon Zelotes
Die Malerei wurde für Leonardo zur göttlichen Wissenschaft, wie Klaus Rüdiger Mai schildert: „Er wollte den Betrachter mit in die Geschichte hineinnehmen, ihn ihre Kraft erfahren lassen in dem Moment, in dem sie sich zutrug“. Dieses Ziel verfolgte Leonardo wohl in kaum einem anderen Werk so sehr wie im Mailänder „Abendmahl“.
„Die Mitte der Geschichte bildete für ihn der Verrat, der Moment, in dem eine Welt zusammenbrach und in dem auch eine Welt (durch das Erlösungswerk Jesu, Anm. Red.) ermöglicht wurde.
Da der Verrat nie von außen, sondern immer von innen kommt, brach Leonardo mit der florentinischen Tradition, Judas allein, außerhalb des Kreises der Jünger zumeist auf der anderen Seite des Tisches darzustellen“, erläutert Klaus-Rüdiger Mai.
Indem Leonardo den Verräter in die Mitte der Gefährten setzte, machte er die Größe des Verrates sichtbar. Mai: „Leonardo entschloss sich, den Verrat mittels der Reaktionen der Jünger zu erzählen.“ Diese gruppierte er in vier Dreiergruppen. Christus bildet das Zentrum, wobei eine Stelle an seinem rechten Ohr den Fluchtpunkt des Gemäldes bildet.
Die von Leonardo verwirklichte komplizierte und tiefsinnige Perspektive des Abendmahls gilt als eines der Geheimnisse des Gemäldes.
Klaus-Rüdiger Mai sagt: „Das Geschehen geschieht und erreicht jeden Betrachter unabhängig von seinem Standort. Und es entsteht eine Sogwirkung ins Freie hinaus. So wird der Ort des Abendmahls zum Ort des Übergangs. Nichts wird bleiben wie es war. Alles ändert sich.“
Leonardo habe für sein Abendmahl nicht die Einsetzung der Eucharistie gewählt, sondern den Moment des Verrates als die Grenzlinie, an der Jesus zu Christus wird.
Der deutliche Abstand zwischen dem Messias und seinen Jüngern stehe für das Zurückweichen der Apostel vor dem Göttlichen: „Es ist der tiefe, metaphysische Schrecken, dass der Vertraute plötzlich ein anderer ist“, sagt Mai, der die Reaktionen der einzelnen Jünger auf den Verrat in seinem Buch „Leonardos Geheimnis“ (siehe Buchtipps) wunderbar analysiert hat.
Wie kann man sich das Verhältnis Leonardos zur Kirche vorstellen? Wie sah sein Glaubensleben aus?
„Daran, dass Leonardo an Gott glaubte, ist nicht zu zweifeln. Ein Agnostiker war er bestimmt nicht. Aus Glaubensstreitigkeiten hielt er sich heraus, wie er auch politische Statements weitgehend vermied“, sagt Klaus-Rüdiger Mai dem SONNTAG.
„Zur Kirche pflegte er eher ein indifferentes Verhältnis, wo sie doch gerade in der Renaissance in vollkommen unverhüllter Art Machtinstitution war und sich auf die Ebene der weltlichen Machthaber herabließ, selbst Partei wurde“, analysiert der Historiker.
Die Natur war für Leonardo da Vinci Gottes Schöpfung. „Um die Natur zu erforschen, war es nicht erforderlich, theologische Spekulationen anzustellen. Mal verkürzt gesagt, um Physik zu treiben, benötigt man Beobachtung, Messung, Experiment, nicht aber Metaphysik“, schildert Mai da Vincis Zugang.
Leonardos „Handicap“, keine Universität besucht zu haben, gereichte ihm zum Vorteil. „Leonardo ging nicht von Theorien aus und folgte auch nicht der Methode des Schlussfolgerns aus Lehrsätzen, sondern setzte die genaue Naturbeobachtung, die Betrachtung und das Experiment an den Anfang“, sagt Mai.
Eine große Rolle spielte das Zeichnen: „Mit seinen Anatomiezeichnungen schuf er ästhetische und wissenschaftliche Standards für die Abbildung und mithin auch Kommunikation von Forschungsergebnissen. Die Unkenntnis der Wissenschaftssprache, des Lateins, die ihn aus dem gelehrten Diskurs ausschloss, führte zur Unvoreingenommenheit, zur Vor-Urteilsfreiheit. Nicht mit dem Urteil, sondern mit der Beobachtung und dem Experiment begann für ihn alles.“
Leonardos Jahrhundert war eine Zeit des Umbruchs, der grundsätzlichen Veränderung und der Weltenwende. „Politische und wirtschaftliche Verhältnisse, aber auch Weltsichten und Gewissheiten veränderten sich radikal“, erklärt Mai.
Die Renaissance, die die Grundlagen für den Aufstieg Europas schuf, könne von uns wie ein ferner Spiegel betrachtet werden, „denn wir befinden uns in einer ähnlich umgreifenden Veränderung.
Heute entscheidet sich, ob unser Kontinent, der solange Motor der Entwicklung war, absteigt zum melancholischen Kontinent der Erinnerung an produktivere Zeiten“, sagt Mai. Leonardo sei in seiner Universalität ein „Riese“ gewesen.
Solche aber gebe es heute nicht mehr, „weil unsere expertengläubige Zeit keine ,Riesen’ mehr zulässt, denn dazu gehört ,Vielseitigkeit’ und ,Charakter’, die Fähigkeit und der Mut, über den Tellerrand zu schauen, Denkkonventionen in Frage zu stellen“, betont Mai: „Was wir heute benötigen, ist mit einem Wort gesagt: eine neue Universalität – und den Mut dazu.
Das ist es, was Leonardo so modern, so interessant macht: Wir können von ihm lernen, unseren Denkgeboten zu entkommen.“
Leonardo da Vinci wurde am 15. April 1452 als unehelicher Sohn des Notars Ser Piero und des Bauernmädchens Catarina in Vinci unweit von Florenz geboren. Er wuchs wohlbehütet im Haus seines Großvaters väterlicherseits auf.
Aufgrund seiner großen zeichnerischen Begabung gab ihn sein Vater in die Werkstatt des Bildhauers Verrocchio in Florenz in die Lehre. Leonardo stieg rasch auf und wurde berühmt: als Maler, Bildhauer, Architekt, Anatom, Mechaniker, Ingenieur und Naturphilosoph. Er gilt als einer der berühmtesten Universalgelehrten aller Zeiten.
Unterschiedlichste Mäzenen (die Sforzas, die Medicis, die Borgias, der Vatikan, der französische König...) ermöglichten ihm ein vielfältiges Betätigungsfeld als Künstler und Ingenieur sowie als Gestalter höfischer Festlichkeiten.
Leonardo blieb unverheiratet, es wird vermutet, er sei homosexuell gewesen. Viele seiner Werke blieben unvollendet. Umso verehrter werden seine bis heute erhaltenen Kunstwerke wie die Mona Lisa, die Felsengrottenmadonna und Johannes der Täufer. Er starb am 2. Mai 1519 in Amboise, Frankreich, wo er auch begraben ist.
Piper Verlag;
ISBN: 978-3-451-34795-5
Die Biographie des Universalgenies.
Evang. Verlagsanstalt Leipzig;
ISBN: 978-3-374-05784-9
Der Autor und Gesprächspartner
Klaus-Rüdiger Mai: Renaissance-Forscher und Biograf von Leonardo da Vinci.
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