Die Wiener lieben ihren Dom, der tatsächlich das Zentrum der Stadt bildet.
Die Wiener lieben ihren Dom, der tatsächlich das Zentrum der Stadt bildet.
Was sind Kraftplätze? Sie säumen unseren Weg, oft unbeachtet und ungenutzt. Sie laden uns ein, Pause zu machen, zu schauen, zu hören und zu spüren. Im Sommer wollen wir an Kraftorte gehen und sie auf uns wirken lassen. In unserer ersten Folge besuchen wir den Wiener Stephansdom, den viele als das Herz Österreichs bezeichnen.
Der Stephansdom gilt vielen Wienern als Kraftort. Die Tourismusströme – täglich sind es bis zu 25.000 Besucher – kommen allerdings nicht in den Genuss dieser Energietankstelle. Zu kurz und oberflächlich ist ihr Besuch.
„Für das Erspüren eines Kraftortes benötigt man vor allem Ruhe und Zeit“, sagt Robert Bouchal, Mitautor des Buches „Kraftorte in Wien“.
„Grundsätzlich muss ein Kraftplatz nichts Spektakuläres sein“, sagt Heimatforscher Robert Bouchal. „Das kann ein Ort sein, an dem Sie sich ganz wohl fühlen. Dieser kann sogar bei Ihnen zu Hause im Haus oder in der Wohnung sein, z. B. ein Sessel, wo Sie gerne sitzen und lesen, nachdenken oder ein Schläfchen machen. Dann wird das zu Ihrem Energieplatz“, schildert Bouchal.
Es müssen also nicht besondere Energieströme aus dem Inneren der Erde sein, vielmehr geht es um ein Zusammenspiel verschiedener Dinge, die uns an einem Ort Kraft schöpfen lassen.
Was macht den Dom für viele zum besonderen Kraftort? Für Reinhard Gruber, Domarchivar und Autor zahlreicher Bücher über den Dom, ist die Stephanskirche nicht nur ein unerschöpfliches Universum für die historische Forschung. Wenn die Tore für Touristen geschlossen sind, kann er in der ihm so vertrauten Kathedrale an seinen ganz persönlichen Kraftplätzen auftanken.
„Im Dom selber gibt es verschiedene Orte, wo Menschen zur Ruhe kommen, eine Kerze anzünden, beten“, sagt Gruber: „Für mich ein ganz wichtiger Ort ist die Dienstbotenmuttergottes – gerade in Situationen, wo es mir nicht so gut geht, wenn ich besorgt bin oder es Anliegen gibt, die mir anvertraut sind, dann ist hier ein guter Ort.“
Ein Kraftplatz im Stephansdom, an dem man merkt, dass hier Ströme zusammenfließen und sich bündeln, ist die Vierung: dort, wo sich Langhaus und Querhaus treffen, wie Reinhard Gruber erklärt: „Hier, wo das Kreuz herabhängt, stand im Mittelalter der wichtigste Altar des Domes, der Leut-Altar, an dem der Gottesdienst für das Volk gefeiert wurde.“
Die Vierung sei nach wie vor ein ganz wichtiger Ort im Dom. „Man merkt es auch, wenn man sich umdreht und schaut und diesen Raum auf sich wirken lässt“, schildert Gruber.
Neben der Eligiuskapelle (nach dem Eingang gleich rechts) mit ganztägiger eucharistischer Anbetung und der Statue des hl. Antonius ist der Altar von Maria Pocs ein besonderes Phänomen. Er scheint trotz der ihn umgebenden Unruhe durch den nahen Eingang einer der am stärksten anziehenden Plätze im Dom zu sein.
Die Architektur trägt wesentlich dazu bei, ob Menschen einen Raum oder Platz als Kraftort erleben. Gotische Kirchen wie der Stephansdom gelten für viele Menschen als Kraftorte. Reinhard Gruber sagt: „Die Gotik zeichnet sich dadurch aus, dass sie maßvoll baut. Das rechte Maß stimmt hier immer, ob man quer durchschaut oder von vorne nach hinten, egal von wo. Es ist immer maßvoll und schön.“
Für Reinhard Gruber gibt es noch eine ganze Reihe besonderer Kraftplätze in der Stephanskirche: „Der Blick von der Westempore in den Kirchenraum z. B. entschädigt mich für viele Troubles oder wenn ich direkt vor dem Hochaltar stehe, mich umdrehe und von Osten nach Westen schaue.“
Wir sind eingeladen, uns Zeit zu nehmen, zu schauen, zu spüren und aufzutanken.
Hoch hinauf auf den Turm des Stephandoms
Nachspüren bei Maria Pocs
Kraftort mitten im Gewurl
Die Bänke vor dem Gnadenbild Maria Pocs im Wiener Stephansdom sind niemals leer.
Es muss schon ein besonderer Ort sein, denn hier im Eingangsbereich des Domes herrscht immer reges Treiben, ein Kommen, Fotografieren, Staunen und Gehen. „Für mich ist immer beeindruckend, wie Beter dort gleich nach dem Eingang, wo es sich staut und immer Unruhe und Bewegung herrschen, mitten im Gewurl also, knien, sitzen und beten“, schildert Domarchivar Reinhard Gruber.
Der Altar von Maria Pocs ist für viele ein Ort der Gnade und der ruhigen Kraft. Was spürt man hier?
Ich mache den Selbstversuch und setze mich ganz wertneutral in eine der hinteren Bänke vor dem Altar. Es herrscht angenehmes mildes Nachmittagslicht vor (dieses leuchtet durch die hohen gotischen Fenster an der Südseite in den Dom herein). Dazu kommt das sanfte Flackern unzähliger Teelichter links vom Gnadenbild. Beides wirkt wohltuend und beruhigend.
Es ist deutlich zu spüren: Der Ort vermittelt Geborgenheit und eine gewisse Geerdetheit. Nichts und niemand ist hier irgendwie abgehoben. Vor den Augen der Muttergottes muss man keine Rolle spielen.
Maria Pocs strahlt unaufdringliche Sanftheit aus. Ich darf mir die eigene Erschöpfung und Gejagtheit eingestehen und gerade dadurch neue Kraft tanken.
Hier möchte man nicht so schnell aufstehen. Noch ein bisschen bleiben, schauen, spüren ...
Die Beter vor Maria Pocs kann ich jetzt besser verstehen und diesen Platz als Kraftort empfehlen. „Leistungsdenken im Glauben“ ist hier ein Fremdwort.
Reinhard Gruber
ist Domarchivar zu St. Stephan in Wien und hat mehrere Bücher über den Dom verfasst.