Regens Richard Tatzreiter"Nichts ist mehr so, wie es war"
Regens Richard Tatzreiter"Nichts ist mehr so, wie es war"
Predigt zur Eucharistiefeier mit ORF-Gottesdienstübertragung am 15. März 2020 von Dr. Richard Tatzreiter, Regens des Wiener Priesterseminars.
Liebe Zuseherinnen und Zuseher, liebe Schwestern und Brüder!
Bis vor kurzem war alles anders, ganz „normal“: Wir haben uns mit Handschlag begrüßt, wir durften und konnten uns ungehindert bewegen und reisen - inner-halb und außerhalb unseres Landes. Wir sind unserer beruflichen Tätigkeit nach-gegangen, haben uns mit Familienangehörigen und Freunden getroffen, einander besucht und uns versammelt. Das private und öffentliche Leben lief für viele von uns ganz „normal“, Tag für Tag gut planbar. Das meiste in unserem Lebensalltag war einfach selbstverständlich: „Alles im Griff“.
Gestern sagte mir ein Taxifahrer, mit dem ich durch die menschenleeren Straßen Wiens fuhr und der zuvor mehrere Stunden auf einen Fahrgast gewartet hatte: „Jetzt ist nichts mehr so, wie es war“. Unser Leben und Zusammenleben hat sich innerhalb weniger Tage tiefgreifend verändert. Und: Wir haben uns verändert. Die Fastenzeit, Zugehen auf das Osterfest, erleben wir heuer ganz anders als sonst! Unerwartete, ungeplante Veränderung: Das stört, das irritiert, es macht unsicher. Wie wird das alles weitergehen? Zu Hause, in unserer eigenen Familie, im Beruf, in unserem Leben? Wie lange wird das dauern? Wie wird heuer Ostern sein? In diesen Fragen liegt ein tiefer Wunsch: es braucht Perspektiven für den Ausweg aus dieser Lage, wir brauchen Zuversicht und Geborgenheit bei allem, was uns jetzt fehlt!
So eine Stimmung muss mitten in der Wüste geherrscht haben, beim Auszug aus Ägypten. Das biblische Buch Exodus, aus dem wir heute gehört haben, kennt diese Erfahrung: unerwartet gerät für das Volk Israel in der Wüste das Leben aus den gewohnten Bahnen, ja das Leben selbst ist plötzlich in ernster Gefahr. Das ist mehr, als sich vom alltäglichen, „normalen“ Trott zu verabschieden: „Das Volk dürstete nach Wasser und murrte gegen Mose. Sie sagten: Wozu hast du uns überhaupt aus Ägypten heraufgeführt, um mich, meine Söhne und mein Vieh vor Durst sterben zu lassen?“
Mose ist mit dieser Situation völlig überfordert, er merkt: weder er noch die anderen haben diese Situation „im Griff“. Es brodelt im Volk, das alles in Frage stellt. Es herrscht Ausnahmezustand. Was kann und soll er da tun? Wohin kann sich Mose mitten in der Wüste noch wenden?
Mose schreit. Er spricht nicht, er schreit. In dieser Lage schreit er verzweifelt zu Gott …und er bekommt Antwort: „Geh am Volk vorbei und nimm einige von den Ältesten Israels mit; nimm auch den Stab in die Hand …und geh! Siehe, dort drü-ben auf dem Felsen am Horeb werde ich vor dir stehen. Dann schlag an den Fel-sen! Es wird Wasser herauskommen und das Volk kann trinken.“
Mose bleibt nicht alleine, nicht fixiert von den Problemen, nicht gefesselt von den Umständen, die er nicht im Griff hat. Er bleibt nicht ohnmächtig im eigenen System isoliert. Er öffnet sich, lässt sich neu auf Gott ein und erfährt dabei, was es heißt, herausgeführt zu werden, gemeinsam unterwegs zu sein und die Krise so zu bestehen. Er wird frei, neu auf sich zu schauen, über sich hinaus zu gehen und sich zu den gegenwärtigen Herausforderungen neu zu verhalten: Da gibt es einige Kollegen und Gefährten in seinem Volk, mit denen er sich aufmacht, die Quelle des Lebens zu suchen. Er lernt: Auswege werden nicht einfach „gemacht“, sondern gezeigt. Er wird an einer Lösung beteiligt, die nicht von ihm allein „zu machen“ ist. Die Quelle des Lebens und die Kostbarkeit des Daseins wird ihm neu erschlossen. Mose erfährt: diese Quelle liegt jenseits unserer menschlichen Möglichkeiten und Grenzen. Gerade war da noch eine völlig ausweglose Situation und die Sinnfrage: „Ist der HERR in unserer Mitte oder nicht?“ Da beginnt sich etwas positiv zu verändern – in ihm und um ihn herum: ein neues Miteinander entsteht, es wächst „Hoffnung, die nicht zugrunde gehen lässt“, ja felsenfeste Zuversicht: Wir sind nicht uns selbst überlassen, wir sind nicht allein, auch nicht in der Wüste, wenn es im Leben knapp und eng wird.
Durch die Ausbreitung des Corona-Virus und die damit notwendig gewordenen Maßnahmen wird uns noch vieles genommen worden. Kaum etwas wird schnell wieder gewohnt und selbstverständlich sein. Das schärft den Blick für die Kostbarkeit unseres Lebens und unserer zwischenmenschlichen Beziehungen. Darin kann auch die Chance liegen, unserer Beziehung mit Gott neu auf die Spur zu kommen, von daher unsere bisherigen Prioritäten neu zu sehen und zu ordnen. Jedenfalls entscheidet sich heuer spürbar, wie die Osterzeit für uns sein wird. Manches liegt dabei in unserer eigenen Verantwortung, anderes bei jenen, die den Dienst der Regierung für das gemeinsame, öffentliche Wohl oder den Dienst an den Kranken ausüben. Nicht zuletzt wird unser Zugang zu geistlichen Quellen darüber entscheiden, wie unser Weg durch die Wüste dieser Tage gelingt.
Wie Mose inmitten der Wüste zu Gott schrie und mit seiner Hilfe zur Quelle des Lebens geführt wurde, so klopfen wir heute gemeinsam inständig an den Felsen, der unser letzter Halt ist: wir flehen um das Wasser des Lebens, das uns niemand geben kann, außer Christus Jesus: Wasser, das in uns selbst zu einer Quelle wird, die Leben schenkt.