"Sobald man die Menschen kennt, ändert sich ganz viel. Ich habe das selber auch erlebt", motiviert der Flüchtlingskoordinator der Erzdiözese Wien, Rainald Tippow zum Engagement für schutzbedürftige Menschen.
"Sobald man die Menschen kennt, ändert sich ganz viel. Ich habe das selber auch erlebt", motiviert der Flüchtlingskoordinator der Erzdiözese Wien, Rainald Tippow zum Engagement für schutzbedürftige Menschen.
Rainald Tippow, Flüchtlingskoordinator der Erzdiözese Wien, appelliert und motiviert zur Mithilfe.
Rainald Tippow, Flüchtlingskoordinator der Erzdiözese Wien, zieht im Gespräch mit erzdiözese-wien.at, Zwischenbilanz zur Bereitstellung von Flüchtlingsquartieren, motiviert Pfarren sich zu beteiligen und gibt Ausblick auf die Herausforderungen der Flüchtlingshilfe 2016.
erzdiözese-wien.at: Sie sind seit vier Monaten Flüchtlingskoordinator in der Erzdiözese Wien. Welche Schwerpunkte setzen Sie aktuell in ihrer Tätigkeit?
Rainald Tippow: Insgesamt blicke ich auf diese Arbeit mit einer großen Dankbarkeit in eine zweifache Richtung: Die eine ist das, was viele Pfarren tun, was Einzelpersonen in Pfarren machen, auch wie viele Menschen von außerhalb der Kirche sich in Pfarren engagieren in Fragen der Flüchtlingsunterbringung. Wir haben in dieser Zeit sehr viele Menschen untergebracht. Rund 300 direkt in Pfarrhöfen, Pfarrheimen, einige in Containern, die aufgestellt wurden und auch in den nächsten Wochen aufgestellt werden. Die von Pfarren betreut werden bzw. von mobilen Mitarbeitern der Caritas. Der kirchliche Bereich ist der größte Beherbergungsbetrieb für Flüchtlinge im nichtstaatlichen Bereich. Auf der anderen Seite bin ich auch dankbar, weil uns bewusst wird in dieser Arbeit, wie gesegnet wir in Österreich sind. Wir sind an keinem geostrategisch interessanten Punkt, wir haben kein Erdöl. Es wird einem bewusst, von welchen Faktoren der Zeit, des Ortes es abhängt, ob man im Krieg aufwächst oder in friedlicher Umgebung.
Insgesamt beschäftigt mich die große Spannung in der Gesellschaft, auch in den Pfarren. Wir haben viele Pfarren, die sich sehr engagieren, die gerade zu Weihnachten sagen, dass wir angesichts dieser Tragödie von Zehntausenden Flüchtlingen auch in unserem Land mit dem Weihnachtsevangelium eine Fluchterzählung haben, wo wir sagen, hier klopft tatsächlich die Heilige Familie bei uns an. Auf der anderen Seite haben wir Pfarren, wo es überhaupt kein Thema ist. Wo sekundäre Zuschreibungen, wie Kultur, Religion, Geschlecht der Menschen mehr wiegt als die Frage, sollen wir jemanden aufnehmen oder nicht. Für mich ist auch erschreckend, wie viel leer stehenden Wohnraum es in unseren Orten gibt, der nicht genutzt wird und auch nicht genutzt werden kann. Wir rufen viel an und oft wird wortlos aufgelegt, sobald man fragt, ob jemand bereit wäre, die Wohnung entgeltlich zu vermieten für Flüchtlinge. Das stimmt schon nachdenklich.
Wer Flüchtlinge persönlich kennen lernt, bekommt einen anderen Blick auf ihre Situation?
Sobald man die Menschen kennt, ändert sich ganz viel. Ich habe das selber auch erlebt. Ich bin selber in einem Kreis in unserem Ort, wo wir uns sehr intensiv um zwei Flüchtlingsfamilien kümmern. Ich würde sogar soweit gehen zu sagen, dass die Aufnahme von Flüchtlingen eine ganz bedeutsame Problemlösungsstrategie ist. Wenn eine Pfarre mit internen Problemen Menschen auf der Flucht aufnimmt, so werden sich diese Probleme in Luft auflösen. Wir erleben einfach durch die Aufnahme von Menschen, wie banal unsere ganzen Alltagssorgen sind, auch wie banal die kirchlichen Struktursorgen sind. Wenn mir in einer Pfarre signalisiert wird, man kann niemanden aufnehmen, weil man die Räumlichkeiten gerade renoviert hat, muss ich sagen, die Überwertung des Steins gegenüber dem Menschen ist unerträglich aus der Sichtweise des Evangeliums. Ich erlebe hier tatsächlich eine große Bereicherung.
Es ist viel, es ist anstrengend, man hat zum Beispiel Spitalsbesuche zu eigenartigen Zeiten, wenn man sich um Flüchtlinge kümmert. Es ist eine unglaubliche Bereicherung. Ich lade die Pfarren, die sich damit noch nicht auseinandergesetzt ein, sich darauf einzulassen, auch weil es das Wesen von Kirche ist. Eine Gemeinde, die sagt wir treffen uns, weil wir uns wohl fühlen, weil wir eine spirituelle Tankstelle haben, aber wir vergessen auf den Menschen, in dem die eigentliche Christusbegegnung möglich ist, so eine Pfarre müsste sich heilen lassen, durch die Begegnung mit einem Menschen auf der Flucht.
Gibt es Kooperationen mit der Stadt Wien und dem Land Niederösterreich in der Flüchtlingsunterbringung?
Mit Nichtregierungsorganisationen, staatlichen Stellen, dem Fonds Soziales Wien, dem Land Niederösterreich gibt es sehr gute Austauschbeziehungen. Das Problem haben alle im gleichen Ausmaß. Wir haben in Österreich 2015 mehrere zehntausend Menschen untergebracht. Wir wissen es nicht genau, wie viele es tatsächlich waren, aber 60.000 bis 80.000 Menschen, teils vorübergehend, teils längerfristig. Das ist eine gewaltige Herausforderung. Die Wiener Pfarren haben 17.000 Menschen in Notquartieren untergebracht. Derzeit bringen sie gerade über den Winter 130 Personen mittelfristig für ein halbes Jahr unter und weitere 300 in Wohnungen für ein Jahr und länger. Das ist eine gewaltige finanzielle und betreuungstechnische Herausforderung.
Der Vorteil einer pfarrlichen Unterbringung ist, das ist nicht nur ein Dach über dem Kopf, sondern das ist in aller Regel auch eine sehr intensive soziale Begleitung. Das ist Sorge um den Kindergartenplatz, Schul-, Amts-, Arztbegleitung, Übersetzungstätigkeiten, Arbeitsmarktfragen usw. Das heißt Personen, die von Pfarren betreut werden, haben eine Intensivbetreuung sieben Tage in der Woche, haben oft fünfmal wöchentlich Deutschkurse. Ein Platz in irgendeiner namenlosen Unterkunft, wo gekocht wird, ist nicht zu vergleichen mit einer pfarrlichen Betreuung.
Wie lange kann ein Notquartier ein Notquartier sein, ab wann benötigt es mehr?
Bei den Transitquartieren ging es kurzfristig darum bei Kälte, bei Regen, teilweise auch bei Schnee, dass die Menschen nicht auf der Straße schlafen mussten. Und da ist jeder Platz unter einem Dach besser, als ein Platz auf der Straße. Sobald jemand mehrere Wochen an einem Platz lebt, braucht es einfach eine gewisse räumliche Trennung. Idealerweise geht es um Wohnraum, der zumutbar ist. Wir stecken keine Menschen in irgendwelche Löcher! Ein Großteil der kirchlichen Bausubstanz ist Substanz, die jahrelang oder jahrzehntelang nicht bewohnt wurde, die ist in aller Regel nicht geeignet. Ohne Fließwasser, ohne Sanitärbereich, ohne Heizung, das ist kein gesellschaftsadäquates Wohnen. Da geht es nicht um Luxus, sondern den Grundstandard, von dem wir in Österreich im Jahr 2016 sagen, das ist
menschengerechtes Wohnen.
Wie kann es gelingen, weitere Pfarren zur Mithilfe bei Schaffung fixen Wohnraums für Flüchtlinge zu motivieren?
Wir werden in den nächsten Wochen alle Pfarren in der Erzdiözese Wien noch einmal informieren über die Möglichkeit Menschen auf der Flucht unterzubringen. Wir begleiten die Pfarren auch. Was eine Pfarre nicht leisten kann, darum bemühen wir uns. Es geht um ein gutes Zusammenspiel von dem was eine Pfarre leisten kann und von dem was
über die Erzdiözese Wien, oder über die Caritas geleistet werden kann.
Was sollte eine Pfarre in der Flüchtlingshilfe leisten können?
Sie sollte einen zumutbaren Wohnraum haben, der trocken ist, der über einen Sanitärbereich verfügt, beheizbar ist. Und im Idealfall eine Gruppe von fünf bis sieben Personen, die sagt, sie kümmert sich und schaut welche Alltagsnöte da sind. Von unserer Seite wird alles zur Verfügung gestellt, was Verbindung zu Ämtern bedeutet. Wir haben Listen von Ärzten, viele Kontakte zu öffentlichen Stellen und privaten Hilfsangeboten. Aber die Stärke einer Pfarre liegt einfach in der menschlichen Begleitung. Die können wir zentral nicht leisten.
Welche Information haben Sie über die derzeitige Lage in den Flüchtlingslagern in der Türkei, dem Libanon und in Jordanien?
Es gibt eine Extremsituation in vielen Flüchtlingslagern. Die Menschen sind so hoffnungslos, das sie sich auch nicht mehr auf die Flucht machen. Es gibt aber eine ganze Reihe von Menschen, die sagen, wenn ich meine Verantwortung als Vater, als Mutter ernst nehme, muss ich das Überleben meiner Kinder sichern. Das kann ich nicht in der Türkei, im Libanon oder in Jordanien, geschweige denn in Syrien, das geht nur in Europa. Diese Menschen laufen um ihr Leben und jenes ihrer Kinder, und die werden kommen. Da nutzt kein Zaun, egal ob in der Kafkaesken Bauweise Österreichs, mit Löchern oder in einer geschlossenen Form. Jemand der Überleben möchte, läuft so lange bis er überlebt hat, oder stirbt. Das muss uns einfach klar sein. Wenn es uns nicht gelingt, es dort politisch in den Griff zu bekommen, werden die Menschen zu uns kommen.
Die Prognosen gehen davon aus, dass es 2016 mehr Menschen sein werden, als vergangenes Jahr. Wir müssen einfach das tun, was zu tun ist, unmittelbar. Das heißt, die Menschen die da sind haben gewisse Rechte, darauf müssen wir schauen. Wir müssen ihnen als Mensch, als Christ begegnen. Wir müssen anlassbezogen mit der Situation umgehen, solange es keine Aktion auf einer breiten politischen Ebene gibt. Hier gibt es aber eine ganze Reihe von hoffnungsfrohen Ansätzen. Wenn tatsächlich mehr als 100.000 Menschen kommen, geht das in der derzeitigen Form nicht mehr. Ich glaube, dass es eine Menge von freien Flächen gibt, die man in Leichtbauweise verbauen kann. Wir sind ein reiches Land, das muss uns immer klar sein. Der Libanon hat immer noch mehr Flüchtlinge aufgenommen als ganz Europa, obwohl er so groß wie Tirol ist. Wir haben in Europa keine Flüchtlingskatastrophe, keine Flüchtlingsströme, wir haben bestenfalls einen Promille- oder Prozentanteil im niedrigen einstelligen Prozentbereich, was Menschen anlangt, die weltweit auf der Flucht sind. Eine Lösung habe ich nicht außer darauf zu hoffen, dass wir das schaffen werden.
In der Erzdiözese Wien möchte man 1.000 fixe Quartierplätze für geflüchtete Menschen bereitstellen. Wie sieht es damit aus?
Derzeit stehen wir bei etwas mehr als 300. Wobei ich ungefähr 130 Wohnraumangebote noch habe. Wobei Wohnraumangebot meint ein bis neun Plätze. Die guten Angebote dabei sind einfach abgegrast. Das heißt viele Pfarren bieten etwas an, weil sie sagen, wir haben hier den seit langem leerstehenden Pfarrhof, der ist in aller Regel nicht verwendbar. Ich vertraue darauf, dass Pfarren aufgrund der Kenntnis vor Ort sagen, hier oder dort gibt es eine Wohnung, die wir anmieten können, da bringen wir jemanden unter. Vorhandener Wohnraum ist immer, oder in aller Regel besser, als eine mühsame und aufwändige Renovierung.
Ist das Ziel der 1.000 fixen Plätze dann überhaupt erreichbar?
Ja, mit Sicherheit. Ich gehe davon aus, dass es zu schaffen ist. Wir haben 660 Pfarren in der Erzdiözese Wien. Wenn ich von einer Familiengröße von vier Personen ausgehe, müsste ein Drittel der Pfarren hier Menschen aufnehmen und wir wären dort, weil wir auch einige Pfarren haben, die große Container aufstellen. Das Priesterseminar in Wien wird im Frühjahr einen Container für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aufstellen. Wir haben in der Pfarre Rodaun einen größeren Containerstandplatz. Es gibt hier einige Orte, wie zum Beispiel das Kloster St. Gabriel, die viele Menschen aufnehmen. Eine Familie pro Pfarre müsste verkraftbar sein und wäre eine Bereicherung für die Pfarre.
Im Zusammenhang mit den Flüchtlingen, die nach Europa kommen, wird immer wieder über "Werte" diskutiert, die es in unserem Kulturraum gibt. Welche Meinung haben Sie dazu?
Ich halte es für eine große Errungenschaft, das bei uns jeder Mensch sein Leben so gestalten kann, wie er möchte. Es wäre eine Katastrophe, wenn wir sagen im vorauseilenden Gehorsam ändern wir unseren Wertehorizont, unsere Errungenschaften, nur damit jemand anderer möglicherweise nicht gestört wird, der vielleicht gar nicht davon gestört ist. Ich denke, dass wir das Wesen unserer Gesellschaft, auch das Wesen des Christlichen, zu dem eben auch Freiheit, Gestaltung des Lebens gehört, den Flüchtlingen vermitteln müssen. Wie ich es im Gespräch erlebe, kommen die Menschen ja genau aus diesen Gründen.
Ich habe in der Arbeit mit den Flüchtlingen kein einziges Mal eine Ablehnung unserer Kultur erlebt. Ich habe kein einziges Mal erlebt, dass sich jemand geweigert hätte, zu Weihnachten an einer Feier teilzunehmen. Wir haben selber mit unseren Flüchtlingsfamilien Weihnachten gefeiert. Natürlich wird man es sensibel machen. Aber ihnen zu zeigen, wie wir Weihnachten feiern ist in Ordnung. Die Kinder unserer Flüchtlingsfamilien haben den Nikolobesuch im Kindergarten genossen und auch zu Hause. Es führt eher zu Diskussionen, was reitet uns hier im Westen, dass wir uns um Menschen kümmern, die uns eigentlich nichts angehen. Und hier zu vermitteln, das ist ein Charakteristikum der christlichen Kultur, sich genau um jene zu kümmern, die nicht dazu gehören. Das ist genau die Stärke von Jesus, den Menschen zu sehen, nicht die Frage der Herkunft. Ich glaube, dass wir da sehr viel vermitteln können.
In der Politik taucht der Begriff der "kapazitätsorientierten Obergrenze" in Zusammenhang mit der Aufnahme von Flüchtlingen auf. Auch über eine "eingeschränkte" Mindestsicherung wird nachgedacht. Was halten Sie davon?
Eine Obergrenze für Flüchtlinge geht erstens schon einmal deswegen nicht, weil wir ein Rechtsstaat sind, der die Genfer Flüchtlingskonvention unterschrieben hat. Wir können hier nicht sagen, wir machen einen Schnitt bei 50.000 und du bist leider der 50.001. Asylwerber. Das könnten wir auch nicht machen bei anderen Zusicherungen, etwa wenn wir sagen, wir haben so und so viele Pensionen und wir sagen dem nächsten Pensionisten du bekommst keine Pension mehr. Sicher geht es um Rechte, gerade im sozialen Bereich müssen wir das vielleicht noch einmal deutlicher lernen. Aber Recht kann nicht ausgehebelt werden, nur weil man sagt, das wären zu viele.
Zur Frage der Kürzung der Mindestsicherung: Wer in Wien lebt, dem wird bewusst sein, dass man für das Wohnen vielleicht 600 bis 800 Euro monatlich benötigt, am Tag mindestens fünf Euro für das Leben und dass einmal die Waschmaschine kaputt werden kann. Hier kann man mit der Mindestsicherung mehr schlecht als recht leben. Wenn ich hier noch weiter kürze, fürchte ich, dass es zu einer breiten Verelendung kommen wird. Wir werden Kinderarmut erleben. Kinder werden in nicht beheizten Wohnungen lernen müssen oder eben nicht lernen können. Jede Form von Verelendung führt zu sozialen Spannungen und Problemen. Ich glaube man sollte vielmehr Energie darauf investieren, die Arbeitsmarktzugänge zu erleichtern. Wir brauchen unbedingt eine frühzeitige Erkennung der Fähigkeiten und Fertigkeiten, der Ausbildung der Menschen, die zu uns kommen, um dort ansetzen zu können. Jeden Tag, den Flüchtlinge keinen Deutschkurs machen, keine Vorbereitung auf ihr Leben hier machen, ist ein verlorener Tag.
Asylhilfe Überblick Österreichweit
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