Daniel Rössler (2.v.l.) bei einer Arbeitsbesprechung im Norden Ghanas
Daniel Rössler (2.v.l.) bei einer Arbeitsbesprechung im Norden Ghanas
Im westafrikanischen Ghana leben tausende Kinder in Waisenhäusern, obwohl sie eigentlich Familie haben. Grund dafür ist die Nachfrage junger Menschen aus Europa, die sich unbedingt um arme afrikanische Waisen kümmern möchten.
Im kleinen Savannendorf Guabuliga im Norden Ghanas stand ein Gebäude mit der windschiefen Aufschrift „Waisenhaus“.
Dort lebten Mädchen und Buben unter der Aufsicht von jungen Menschen aus Europa oder Nordamerika. Alle paar Wochen hieß es Abschied nehmen von den Freiwilligen, dann kamen neue junge Leute, mit Spielsachen, Malstiften und vielleicht Fußballschuhen im Gepäck.
Die Kinder im Waisenhaus hatten Dinge, die ihnen ihre Eltern nicht geben konnten. Ihre Eltern, die im selben Dorf wohnten, einen Steinwurf entfernt vom Waisenhaus.
Als Daniel Rössler 2011 über die Entwicklungszusammenarbeit nach Guabuliga kam, hatte er unter anderem die Aufgabe, das falsche Waisenhaus zu schließen. „Damals war das für mich recht undurchsichtig“, erinnert er sich.
Das verbreitete Phänomen der fingierten Waisenhäuser ließ den Kärntner nicht los, er recherchierte schließlich drei Jahre lang und kam zu dem Schluss: „Das Waisenhaus hilft kurzfristig vielen Menschen und schadet auf lange Sicht vor allem den Kindern.“
Drei Mahlzeiten pro Tag, medizinische Versorgung, Geschenke und Zeit zum Spielen statt Feldarbeit: Das klingt verlockend für Eltern, die ihre Kinder mehr schlecht als recht durchbringen.
Deshalb lassen sie sich von selbsternannten Waisenhausdirektoren, meist Männern aus ihrem Dorf, überzeugen und geben ihre Töchter und Söhne in die Obhut Fremder.
„Den meisten Kindern gefällt dieses Leben so gut, dass sie nach gewisser Zeit gar nicht mehr nachhause wollen“, berichtet Daniel Rössler.
Doch der Preis für die Jahre in der Seifenblase ist hoch: „Wenn sie dann mit 18 Jahren das Waisenhaus verlassen müssen, sind sie völlig entfremdet, sie können oder wollen nicht arbeiten und wären unfähig, eine Familie zu ernähren.
Niemand möchte ein ‚white kid‘, ein ‚weißes Kind‘, wie sie genannt werden, heiraten.
Sie sind Ausgestoßene in ihren Dörfern. Und das alles wegen freiwilliger Helfer, die eigentlich etwas Gutes wollten.“
Immer mehr Menschen der wohlhabenderen Gesellschaften wollen sich in den Ländern des Südens engagieren. 10 Millionen Freiwillige sind rund um den Globus für eine „gute Sache“ unterwegs.
Dafür zahlen sie Agenturen in ihren Heimatländern oft viel Geld. Am beliebtesten sind Einsätze bei Waisenkindern. Wo die Nachfrage das Angebot übersteigt, werden die Waisen eben erfunden.
„Es hört sich an wie ein ganz gemeines Geschäft, aber in Wirklichkeit ist den Beteiligten die Gefahr gar nicht bewusst“, relativiert Daniel Rössler, „wenn in Guabuliga Fremde in zwei Wochen mehr Geld ausgeben, als das gesamte 2000-Einwohner-Dorf in einem Jahr harter Feldarbeit verdient, sieht die Gemeinschaft das zunächst als positive Entwicklung.“
Über die negativen Auswirkungen informiert das Kinderhilfswerk UNICEF seit geraumer Zeit in Ghana und versucht, die Familien zu stärken, damit sie ihren Kindern ein gutes Leben bieten können.
Die ersten falschen Waisenhäuser wurden in dem afrikanischen Land vor rund fünfzehn Jahren gegründet. Heute gibt es etwa 150 Waisenhäuser mit 5.000 Kindern, die fast alle Familie haben.
Die Regierung Ghanas bemüht sich seit 2009 gemeinsam mit UNICEF, die Waisenhäuser zu schließen und die Kinder in ihre Familien und Dorfgemeinschaften zu reintegrieren.
„Es ist wirklich harte Arbeit, Eltern und Kinder wieder zueinander zu führen“, weiß Daniel Rössler, der das im Dorf Guabuliga gemeinsam mit Sozialarbeiterinnen versucht hat. „Es war schmerzhaft mitzuerleben, wie diese eigentlich natürliche Einheit über die Jahre auseinandergebrochen ist.
Doppelt weh getan hat, dass zur gleichen Zeit in den Dörfern rundherum neue Waisenhäuser entstanden sind.“
Die stetige Nachfrage aus den reichen Ländern macht in Ghana, Kambodscha und anderswo aus Söhnen und Töchtern Waisen. „Erst wenn diese ständige Nachfrage nach Waisenhauseinsätzen verebbt, kann das Problem an der Wurzel gepackt werden“, erklärt Daniel Rössler.
Die Freiwilligenarbeit generell schlecht reden möchte der Entwicklungshelfer keinesfalls, er sieht großes positives Potenzial.
Medizinische und pädagogische Fachkräfte oder landwirtschaftliche Expertise würden etwa dringend gebraucht. „Der Trend, dass sich immer mehr junge Menschen engagieren wollen, ist prinzipiell ein schöner“, meint Daniel Rössler.
Allerdings müsse man sich fragen, welche Kompetenz man zur Verfügung stellen kann, und die eigene Motivation beleuchten, betont er und zitiert aus Studien die drei häufigsten Gründe für Freiwilligeneinsätze im Ausland:
Mit seinem Buch „Das Gegenteil von Gut ... ist gut gemeint“ möchte Daniel Rössler Bewusstsein für das Thema schaffen:
„Ich hoffe, bei jungen Menschen einen Reflexionsprozess anstossen zu können:
Dann kann der Wunsch, etwas Sinnvolles zu tun, in die richtigen Bahnen gelenkt werden.
Daniel Rössler
2015, Seifert Verlag
Fester Einband
260 Seiten
ISBN: 978-3-902924-42-1
Dieses Buch online bei der Wiener Dombuchhandlung "Facultas" erstehen
Weitere Informationen zu "Der Sonntag" die Zeitung der Erzdiözese Wien
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