Das Geld, das in den Ausbau der Stadien floss, fehlt anderswo. Die Städte ersticken im Verkehr.
Das Geld, das in den Ausbau der Stadien floss, fehlt anderswo. Die Städte ersticken im Verkehr.
Anlässlich der Fußball-Weltmeisterschaft möchte sich Brasilien von seiner besten Seite zeigen. Doch Geldverschwendung, soziale Missstände und die Räumung von Armenvierteln sorgen im fünftgrößten Land der Welt für Ernüchterung und Proteste.
In der größten Stadt Brasiliens, São Paulo, wird am 12. Juni 2014 mit dem Spiel Kroatien gegen den Gastgeber Brasilien die Fußball-Weltmeisterschaft eröffnet. Die Copa, wie die Fußball-WM in Brasilien kurz genannt wird, steht dann wochenlang im Fokus der Weltöffentlichkeit. Seit Jahren beschäftigt dieses Großereignis nicht nur die Fußball-Nationalteams, sondern auch die Bevölkerung Brasiliens. Viele liegen als begeisterte Fußball-Fans im Copa-Fieber, andere protestieren vehement gegen Misswirtschaft und Korruption. Kaum jemanden in Brasilien lässt die WM kalt.
Präsident Luiz Inácio Lula da Silva holte die WM ins Land, als Brasilien eine Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs und eine Verringerung der sozialen Unterschiede in der Bevölkerung erlebte. Die Arbeiterpartei war an die Regierung gekommen und setzte sich nicht nur für Wirtschaftsreformen, sondern auch für eine Umverteilung ein. Der Hunger wurde wirksam bekämpft, der Mindestlohn angehoben, Strom- und Internetversorgung bis in abgelegene Gebiete im Landesinneren ermöglicht. Die Regierung wollte demonstrieren, dass sie nun dazu bereit sei, als wichtiger Akteur auf Weltebene mitzuspielen.
Spätestens im Sommer 2013, während des Fußball-Konföderations-Cups der „Generalprobe“ für die WM, ist diese Aufbruchsstimmung einer Ernüchterung gewichen. Landesweit gingen hunderttausende Menschen auf die Straßen, um gegen die horrenden Kosten der Infrastruktur für die Fußball-WM zu protestieren und Verbesserungen im Bildungsbereich, im Gesundheitswesen und beim öffentlichen Transport einzufordern. „Queremos uma saúde padrão FIFA“, forderten die Menschen auf den Straßen Brasiliens. „Wir wollen ein Gesundheitswesen mit FIFA-Qualität!“ Unter den Protestierenden war auch Pater Anselmo Ribeiro SVD, der Provinzial der Steyler Missionare in Belo Horizonte.
Die Auflagen der FIFA hatten dazu geführt, dass bestehende Fußballstadien großzügig renoviert und einige Stadien komplett neu gebaut wurden. Diese Sportstätten kamen weit teurer als jene, die in London oder Südafrika für die Weltmeisterschaften gebaut wurden. Statt den 2007 veranschlagten 1,1 Milliarden Dollar wurden schon über drei Milliarden ausgegeben.
„Zusammen mit den Infrastrukturmaßnahmen sind wir jetzt bei 11 Milliarden“, berichtet mir Pater Ozanan Carrara SVD, ein Steyler Missionar, der Ethik-Professor in Volta Redonda nahe Rio de Janeiro ist. „Und diese Infrastruktur kommt oft nur den Gästen der Copa und der Oberschicht in unserem Land zugute. Es ist eine Schande!“ Als Beispiel nennt er Rio de Janeiro. Dort erstickt die „ Baixada Fluminense“, der nördliche Stadtrand der Millionenstadt unweit des internationalen Flughafens Galeão, tagtäglich im Stau. Nun wurde vom Flughafen weg extra für die Fußball-WM eine Bus-Schnellverbindung mit eigener Fahrspur gebaut. Sie führt zu einer der schicksten Gegenden der Stadt, nach Barra da Tijuca, wo viele Touristen wohnen werden. Am Transportproblem der Baixada ändert das rein gar nichts. Hinzu kommt noch, dass armselige Wohngebiete wie die Favela Maré unweit des Flughafens Galeão von einer der Armee und einer „Befriedungspolizei“ besetzt wurden, um die Bevölkerung in Schach zu halten und die Sicherheit der WM-Besucher zu garantieren.
Für den Um- und Neubau der Stadien und die Infrastruktur wurden nach Angaben von NGOs 250.000 Leute umgesiedelt. Eine ganze Reihe von Bürgerinitiativen hat sich landesweit gebildet, um diesen Menschen zu ihrem Recht zu verhelfen. Weitere direkt Betroffene sind jene Menschen, die vom Verkauf ihrer Produkte in Fußballstadien leben. An ihrer Stelle werden offizielle Ausstatter und Sponsoren der FIFA das Geschäft machen. Für zusätzlichen Ärger sorgte der Verdacht, dass die Überteuerung der WM-Baustellen durch Schmiergeldzahlungen und Korruption verursacht wurde. Der Zeitdruck bei der Fertigstellung ließ keine zeitaufwändigen Untersuchungen zu. So versuchte die Regierung vorerst einmal, durch kurzfristige Verbesserungen den Volkszorn zu besänftigen. Auf vielen Bussen steht nun „Ônibus novo“ – „Neuer Bus“. Und in vielen Städten wurden die Tickets billiger. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass das Gesundheitssystem des Landes weiter im Argen liegt und das Geld für notwendige Reformen fehlt.
Die „Verbesserungen“ gibt es in den Stadien. Bei einem Besuch in Belo Horizonte im Jänner 2014 besuchte ich ein Spiel im Stadion „Mineirão“. Dort lernte ich den Architekten Wilson Martins und seinen Sohn Lukas kennen, der die Spieler beim Einlaufen ins Stadion begleiten durfte. Beide sind glühende Fans von Cruzeiro, einem der großen Vereine im Bundesstaat Minas Gerais. Zu meiner Überraschung sagte Wilson: „Ich bin gegen diese WM in Brasilien!“ Und er begründete es auch gleich: „Die neue ‚FIFA-Qualität‘ hat zu einer Verteuerung der Eintrittspreise geführt. Schau, die teuren Plätze dort, da sitzt niemand. Die kann sich kaum wer leisten. Keine 70.000 Leute gehen mehr hier rein, früher war für 130.000 Zuschauer Platz! Jetzt gibt es nur noch Sitzplätze. Aber die braucht es nicht. Richtige Fans schauen ein Spiel im Stehen an!“ Stolz war Wilson darauf, dass der FIFA abgetrotzt wurde, dass bei den sechs WM-Spielen im Mineirão das typische Gericht „Feijão Tropeiro“ verkauft werden darf. „Die Touristen wollen doch etwas Landestypisches kennen lernen. Dass die FIFA das nicht versteht!“ Aber das sei eben das Problem, meinte Wilson. „Die Copa ist ein großes Geschäft für die FIFA und ihren Sponsoren, und die brasilianische Bevölkerung wird zur Kassa gebeten!“
Wegen der negativen Stimmung sogar unter den Fußballfans befürchtet die Regierung, dass es bei der WM zu massiven Protesten kommen könnte. Für diese steht viel auf dem Spiel, denn im Herbst 2014 ist Präsidentenwahl. Eilig wurden gesetzliche Maßnahmen ergriffen: Demonstrationen in der Nähe der Stadien sind verboten, die Polizei erhält Sonderbefugnisse, das Militär wird eingeschaltet. „Manche meinen, das ‚Allgemeine Gesetz zur WM‘ kommt dem Gesetz nahe, das 1964 die Militärdiktatur in Brasilien erließ“, meint Pater Carrara. „Es ist unverständlich für mich, dass Präsidentin Dilma Rousseff so ein Gesetz erlassen kann. Sie war doch selbst Opfer der Militärdiktatur!“
Präsident Lula da Silva hat die Fußball-WM und die Olympischen Spiele (2016) nach Brasilien geholt, um zu zeigen, dass das Land auf der großen Weltbühne angekommen ist. Wenn Brasilien Fußballweltmeister wird und als erste Nation sechs WM-Titel hat, dann ist vielleicht doch wieder alles paletti im Land des Samba und des Fußballs. Ich bin gespannt, ob auch im Juni noch gilt, was ich in Belo Horizonte von einem TV-Kommentator gehört habe: „Karneval und Fußball, das funktioniert immer in Brasilien!“